SZ-Serie: Politik und Wissenschaft (1):Zu viel Beratung

Man muss die exakten Wissenschaften von ethischen und politischen Handlungsempfehlungen unterscheiden. Akademien sollten Fakten liefern und nicht Politik machen.

Dietmar Willoweit

In dieser Woche haben die Leopoldina als Deutsche Akademie der Wissenschaften, die Deutsche Technikakademie Acatech und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften - letztere "für die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften" - eine Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik (PID) der Öffentlichkeit vorgestellt, die diese Methode nachdrücklich befürwortet.

Dietmar Willoweit

Akademiepräsident Dietmar Willoweit (hier beim Erhalt der Bayerischen Verfassungsmedaille).

(Foto: Bayerischer Landtag)

Über das Für und Wider in der Sache soll hier nicht gerichtet werden. Die komplexe Problematik, die bisher ungeahnte Perspektiven menschlicher Selbst- und Fremdbestimmung eröffnet, bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion und ist mit der Erörterung von Empfehlungen, die in hohem Maße auslegungsbedürftig sind, nicht zu lösen.

Zu reden ist aber über den Anspruch von Wissenschaftlern, im Namen "der" Wissenschaftsakademien und damit der Wissenschaft schlechthin zu sprechen. Zu reden ist über die Unterscheidung der exakten Wissenschaften von ethischen und politischen Handlungsempfehlungen, nicht zuletzt auch über das im konkreten Fall eingeschlagene Verfahren.

Dem Ständigen Ausschuss der Nationalakademie, der die von Arbeitsgruppen erarbeiteten Gutachten zu verabschieden hat, gehören je drei Vertreter der Leopoldina, von Acatech und der Union der acht deutschen Akademien der Wissenschaften an (Bayern, Berlin-Brandenburg, Göttingen, Hamburg, Heidelberg, Mainz, Nordrhein-Westfalen, Sachsen). Von den letzteren drei Sitzen steht einer stets der Berlin-Brandenburgischen Akademie zu.

In diesem Ausschuss ist ein Einvernehmen über die Stellungnahme zur PID nicht erzielt worden. Zwei der drei Vertreter der in der Union zusammengeschlossenen Akademien lehnen sie aus den hier zur Sprache zu bringenden Erwägungen ab. Ebenso wenig gelang den deutschen Akademien der Wissenschaften, eine gemeinsame Auffassung über die Stellungnahme zu entwickeln: Fünf der Akademiepräsidenten stimmten zu, drei lehnten ab.

Diese diffuse Situation macht offenbar, was ganz prinzipielle Bedeutung hat: dass über Empfehlungen ethischen und politischen Charakters ein Konsens kraft wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zu erzielen ist. Die Berlin-Brandenburgische Akademie aber, deren Präsident zur Zeit in Personalunion Unionspräsident ist, hat niemals den Auftrag erhalten, für die Unionsakademien insgesamt zu sprechen, wie die Presseerklärung der Leopoldina voraussetzt.

Selbst wenn den Wissenschaftsakademien eine gründlichere gemeinsame Erörterung der Thematik möglich gewesen wäre: Was hätte der Gegenstand der Beschlüsse sein müssen - eine umfassende Darstellung der wissenschaftlichen Tatsachen oder die Entscheidung pro oder kontra PID, die zwangsläufig gleichfalls eine Mehrheitsentscheidung gewesen wäre? Ist es Aufgabe der Akademien und des Ständigen Ausschusses, nicht nur die empirischen und normativen Grundlagen politischer Handlungsfelder von sozialethischem Gewicht abzuklären und Alternativen aufzuzeigen, sondern auch gleich zu sagen, was nun zu geschehen hat?

Die Feststellung eines Ist-Zustandes, des "Seins", ist von der Empfehlung, in bestimmter Weise tätig zu werden, vom "Sollen" also, logisch strikt zu unterscheiden - auch wenn sich angesichts eines empirisch festgestellten Sachverhaltes zuweilen eine normative Schlussfolgerung scheinbar zwingend aufdrängen möchte. Nicht jedem Wissenschaftler scheint das wirklich klar zu sein. Im Spektrum der Wissenschaften ist zwischen empirischen Forschungen, zu denen auch die Sozialwissenschaften und weitgehend die Arbeiten der Historiker gehören, und eher handlungsorientierten Disziplinen wie Jurisprudenz und Ethik zu unterscheiden.

Wer glaubt, den naturwissenschaftlichen Fakten mit "Empfehlungen" Handlungsnormen entnehmen zu können, missachtet bewusst oder übersieht unbewusst diese Unterscheidung. Anders als die gewählten Volksvertreter und auch der Deutsche Ethikrat haben die Mitglieder des Ständigen Ausschusses der deutschen Nationalakademie keinen gesetzlichen Auftrag, politische und ethische Empfehlungen zu geben.

Wohl aber erwartet von ihnen die Öffentlichkeit umfassende Informationen, um sich für eine Alternative entscheiden zu können. Gesellschaftsberatung in diesem Sinne ist zu wichtig, als dass sie sich in das Getümmel des politischen Meinungskampfes stürzen dürfte. Im vorliegenden Falle wäre es ein Leichtes gewesen, Anhänger einer abweichenden oder gar entgegengesetzten Empfehlung zur PID zu versammeln. Sie hätten das gleiche oder ebenso wenig das Recht gehabt, sich als Stimme der Wissenschaft oder der Wissenschaftsakademien zu gebärden.

Also ist auch die jetzt präsentierte Stellungnahme nicht eine solche einer Akademie oder gar "der" Akademien, sondern die persönliche Meinung einer bestimmten Gruppe angesehener Wissenschaftler. Warum müssen sie den Anspruch erheben, im Namen der Wissenschaftsakademien zu sprechen? Wissenschaft ist die wahre Leitkultur unserer Zeit, die von allen gesellschaftlichen und politischen Kräften zu respektieren ist und - was die Fakten betrifft - den einzig tragfähigen Boden für die kontroversen Diskurse der Gegenwart liefert.

Der Gedanke war daher richtig, wissenschaftlicher Erkenntnis in der unübersichtlichen deutschen Wissenschaftslandschaft in Gestalt einer deutschen Nationalakademie ein weithin sichtbares Forum zu verschaffen. Aber es war ein Fehler, einer der bestehenden Akademien, der Leopoldina, einfach einen neuen Titel zu verleihen. Notwendig ist eine gesetzliche Regelung, die verbindliche Festlegungen über die institutionellen Formen, die Ziele und die Funktionsweise einer deutschen Nationalakademie vorgibt.

Wissenschaftliche Gesellschaftsberatung will sorgfältig bedacht und organisiert sein. Dafür genügt ein Ständiger Ausschuss mit neun mehr oder weniger zufällig abgeordneten Mitgliedern aus verschiedenen Disziplinen nicht. Es bedarf zunächst einer präzisen Definition der Aufgaben, die sich auf die Vermittlung gesicherten Wissens und die Beschreibung der sich bietenden Handlungsalternativen beschränken müssen. Beschreibung - nicht Empfehlung - dessen, was getan werden kann, ist die adäquate Form wissenschaftlicher Aussagen über die schwierigen, die Zukunft bestimmenden Forschungsfelder und Entscheidungsszenarien der Gegenwart.

Nur über solche Fakten wird sich in der deutschen Wissenschaft ein ungefährer Konsens herstellen lassen. Und nur auf diesem methodischen Wege kann die ganze Autorität der Wissenschaft in der Gesellschaft wirksam werden. Organisatorisch aber bedarf es für die Erarbeitung fundierter Stellungnahmen einer ausgewogenen Repräsentanz aller Wissenschaften in einem breiter aufgestellten Gremium, für das die bestehenden Wissenschaftsakademien geeignete, aber nicht exklusive Kristallisationskerne bilden könnten.

Die jetzt der Öffentlichkeit übergebenen Empfehlungen zur PID werden teils Zustimmung, teils Widerspruch herausfordern und in der politischen Debatte nur als eine Stimme unter vielen wahrgenommen werden. Dem Anspruch der Wissenschaft und der Idee einer deutschen Nationalakademie ist damit nicht gedient.

Der Autor ist Jurist und Historiker. Von 2006 bis 2010 war er Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.

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