Süddeutsche Zeitung

Super-GAU von Tschernobyl:Was von der Wolke übrig bleibt

Der Super-GAU von Tschernobyl wirkt noch immer nach. Selbst 25 Jahre nach der Katastrophe strahlen in Süddeutschland Pilze und Wildschweine. Die Gesundheitsgefahren sind allerdings offenbar gering.

Claudia Füssler

Hätte es damals nicht geregnet, hätten wir kein Problem", sagt Joachim Reddemann, "so aber werden unsere Kinder und Enkel noch die nächsten hundert Jahre damit zu kämpfen haben."

Das Problem, von dem der Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Jagdverbandes spricht, heißt Cäsium-137. Das radioaktive Metall ist nach dem Atomunfall in Tschernobyl am 26. April 1986 mit der Luft auch nach Deutschland getragen worden und bis heute im Süden des Landes in hohen Dosen nachweisbar.

Drei Wolken haben radioaktive Stoffe von Tschernobyl aus über Europa verteilt. Die erste zog über Polen nach Skandinavien, die zweite über die Slowakei, Tschechien und Österreich nach Deutschland, die dritte erreichte Rumänien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei. Wie stark Regionen kontaminiert wurden, hing davon ab, ob es regnete, als die radioaktiv verseuchten Luftmassen durchzogen.

In Deutschland waren vor allem Bayern und der Südosten Baden-Württembergs betroffen, wo am 1. und 2. Mai 1986 stellenweise heftiger Regen die Radionuklide aus der Luft wusch. Laut Bundesamt für Strahlenschutz wurden im Bayerischen Wald und südlich der Donau bis zu 100.000 Becquerel Cäsium-137 pro Quadratmeter abgelagert, vor allem in Wald- und Moorgebieten, also sauren Böden, aus denen es von Pilzen und Pflanzen aufgenommen wird.

Mit Humus und Ton versetzte Böden hingegen, auf denen die meisten Kulturpflanzen wachsen, sind schwach sauer bis alkalisch. Sie binden das Cäsium so fest, dass es nicht mehr in Pflanzen oder Pilze gelangen kann.

Im Gegensatz zu anderen radioaktiven Stoffen wie Jod, Tellur oder Cäsium-134, die inzwischen zerfallen sind, hat Cäsium-137 eine Halbwertszeit von 30,4 Jahren. Heute, 25 Jahre nach dem Unglück, befindet sich noch mehr als die Hälfte der ursprünglichen Cäsium-Menge in süddeutschen Böden. Von dort gelangt es in Pilze, die vom Schwarzwild gefressen werden.

"Besonders belastet ist der Hirschtrüffel, da messen wir bis zu 28.000 Becquerel Cäsium pro Kilogramm. Wenn eine Wildsau so einen Pilz frisst, wird sie massiv verstrahlt", sagt Reddemann. Die Europäische Union hat einen Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm für Lebensmittel festgelegt, was darüber liegt, wird entsorgt. In Bayern sind das jährlich zwei Prozent der 45.000 bis 50.000 erlegten Wildschweine.

"Wir haben das Glück, dass wir die größte Schwarzwilddichte in Nordbayern haben, also in nicht so stark oder gar nicht kontaminierten Gebieten", sagt Reddemann, "In weiten Teilen Bayerns ist das erlegte Wild also nur gering belastet."

Wobei Wild nahezu ausschließlich das Schwarzwild meint, bei Rotwild werden selten Cäsium-Belastungen über dem Grenzwert gemessen. Hasen, Rehe und Hirsche fressen keine Pilze. Wildschweine hingegen, die bei ihrer Suche nach Eicheln und Bucheckern den Boden durchpflügen, nehmen viel kontaminiertes Material auf.

In Wintern, in denen es wenig Baumfrüchte gibt, graben die Sauen tiefer im Boden, um Hirschtrüffel zu finden. Mit diesem und dem ebenfalls stark Cäsium-belasteten Maronen-Röhrling nehmen die Tiere eine hohe Dosis Radioaktivität auf. "In betroffenen Gebieten und den Nachbarkreisen muss jede erlegte Sau zur Kontrolle, ehe sie beim Verbraucher landet", sagt Reddemann. "Bei verstrahlten Tieren messen wir 2000 bis 3000 Becquerel pro Kilogramm, Werte jenseits der 10.000 Becquerel sind auch schon vorgekommen."

Im Frühjahr und Sommer beobachten Jäger ein Absinken der Verstrahlung, Wildschweine wühlen dann weniger. Auch wenn aufgrund der starken Kontrollen keine Gefahr für den Verbraucher besteht, ein Ärgernis sind die verseuchten Sauen dennoch. "Wir erlegen die Tiere ja nicht für die Abfalltonne", sagt Reddemann. Deshalb werden Möglichkeiten zur Dekontamination der Schweine erforscht.

Als wirkungsvoll hat sich Ammoniumeisenhexacyanoferrat, bekannt unter dem Namen Giese-Salz, erwiesen. Schon ein halbes Gramm könnte die Cäsium-Belastung der Wildschweine um 50 bis 97 Prozent reduzieren. Doch wie kommt das Giese-Salz ins Schwein? Sauen sind keine Futtertiere.

Pflanzen, die auf radioaktiv verseuchtem Boden wachsen, nehmen meist nur wenig Cäsium auf. Belastet sind vor allem der Dornfarn mit 4000 Becquerel pro Kilogramm, die Heidelbeere mit 2500 Becquerel und die Seegras-Segge mit 1800 Becquerel. Naschen vom Heidelbeerstrauch ist dennoch erlaubt, für eine radioaktive Verstrahlung müsste man Unmengen verzehren. Das Gleiche gilt für Pilze und Wild aus kontaminierten Gebieten.

Das Bundesumweltministerium schreibt dazu: "Bei normalen Verzehrgewohnheiten von Wildpilzen und Wildfleisch, die im Regelfall nur in relativ geringen Mengen verzehrt werden, besteht aus strahlenhygienischer Sicht keine gesundheitliche Gefährdung." Wer 200 Gramm Pilze isst, die mit 4000 Becquerel Cäsium-137 pro Kilogramm verstrahlt sind, wird mit 0,01 Millisievert belastet - das entspricht der Belastung durch Höhenstrahlung bei einem Flug von Frankfurt nach Gran Canaria.

Die erste radioaktive Wolke, die in Richtung Skandinavien zog, hat ihre Spuren auch in Nord- und Ostsee hinterlassen. Während in der Nordsee ein intensiver Wasseraustausch für schnelle Verdünnung sorgte, werden bei Fischen in der strömungsarmen Ostsee noch heute höhere Cäsium-Werte gemessen.

Der Dorsch als oberster Raubfresser ist mit fünf bis zehn Becquerel pro Kilogramm belastet, direkt nach der Katastrophe von Tschernobyl waren es mehr als 20 Becquerel.

"Das sind so niedrige Werte, dass sich niemand Sorgen machen muss", sagt Fischereiökologe Ulrich Rieth vom Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut, Leitstelle für die Überwachung der Umweltradioaktivität in Fischen. Jeder Bundesbürger bekommt jährlich eine durchschnittliche Strahlendosis von 2,1 Millisievert ab - im Alltag, vom Essen, durch Röntgenuntersuchungen und Flugreisen.

"Die Dosis würde sich um weniger als ein Prozent erhöhen, wird der Fischanteil in der Nahrung ein Jahr lang mit Ostseefisch gedeckt", sagt Rieth. "Auch Baden in der Ostsee ist kein Problem. Im Meer befindet sich ja immer ein wenig natürliche radioaktive Strahlung, das macht kaum einen Unterschied zur aktuellen Belastung." Und wie bekommt den Fischen das krebserregende Cäsium? "Für die ist das nur eines von vielen Umweltgiften. Wir wissen nicht genau, ob ihnen das Quecksilber, organische Schadstoffe oder die Radioaktivität mehr schaden", sagt Rieth.

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Quelle:
SZ vom 24.03.2011/mcs
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