Süddeutsche Zeitung

Sudoku-Weltmeisterschaft in London:"Es geht darum, Ordnung ins Chaos zu bringen"

Lesezeit: 6 Min.

Das Zahlenrätsel Sudoku macht seine Anhänger süchtig, begeisterte Anhänger treffen sich zur Weltmeisterschaft in London. Allerdings nicht für Preisgeld, Spannung oder Entspannung. Ein Besuch bei einem skurrilen Wettkampf.

Von Robert Gast

Kerstin Wöge war froh, als ihr Hobby zum Hype wurde. Davor, als ihre geliebten Sudoku-Rätsel kaum jemand kannte, war sie "chronisch unterversorgt", sagt die 34-Jährige. "Erst ab 2005 gab es endlich genug Futter." Seitdem sind Sudokus überall. Und Wöge kann so viele der Zahlenrätsel lösen, wie sie will, im Stehen und Laufen, in der Vorlesung und auf dem Klo. "Ich bin da ganz ehrlich", sagt die Lehramtsstudentin. "Es ist eine Sucht."

Die Sucht nach Zahlenfeldern hat Kerstin Wöge dieses Jahr in den Londoner Vorort Croydon gebracht, in ein viktorianisches Landhaus, das als Golfhotel vermarktet wird. Dort fand in dieser Woche die neunte Sudoku-Weltmeisterschaft statt. Und Wöge, einst deutsche Meisterin in dem populären Zahlenspiel, war eine von 176 Teilnehmern. "Ich weiß, dass ich nicht gewinnen kann", sagte sie gleich zu Anfang. Aber sie wollte es ins vordere Drittel des Teilnehmerfeldes schaffen - Platz 58 oder höher also.

Sudoku, eigentlich steht das für den japanischen Spruch "Suji wa dokushin ni kagiru", sinngemäß übersetzt: "Die Zahlen müssen einzeln stehen." In den 1980er- und 1990er-Jahren eroberte das von einem Amerikaner erfundene Spiel erst Japan, und schwappte 2005 zurück in den Rest der Welt. Nach Europa hat es der pensionierte neuseeländische Richter Wayne Gould gebracht, der im Urlaub ein japanisches Heft mit dem Spiel entdeckt hatte. Er bot das Zahlenrätsel der britischen Zeitung The Times an, zunächst kostenlos. Die erste Leserreaktion war angeblich die eines Mannes, der sich beschwerte, er habe über die Knobelei seine U-Bahn-Station verpasst. Gould verdiente später, als das Volk angefixt war, mit Sudoku-Büchern Millionen.

Von Hausfrauen keine Spur, dafür hochbegabte Asiaten

Das sind längst nicht die einzigen kuriosen Sudoku-Anekdoten. Im Internet macht die Geschichte eines australischen Gerichtsprozesses die Runde, der abgebrochen wurde, weil mehrere Geschworene unter dem Tisch Sudoku gespielt hatten. Für Außenstehende erschließt sich der Sog des Zahlenrätsels allerdings eher schwer. Schließlich geht es bloß darum, immer wieder die Ziffern 1 bis 9 auf einem neun mal neun Felder großen Raster zu verteilen. Ein wenig komplizierter ist es freilich schon. So ist das Spielfeld in neun quadratische Boxen aufgeteilt, und 20 bis 30 Zahlen sind meistens bereits vorgegeben. Die restlichen müssen mit Ziffern aufgefüllt werden, und zwar so, dass in keiner Box, Spalte oder Zeile eine Zahl doppelt vorkommt. Mathematiker konnten inzwischen nachweisen, dass ein Rätsel mit nur 17 Vorgaben eine eindeutige Lösung, während eines mit nur noch vier offenen Feldern zwei Lösungen haben kann.

Trotzdem kann man das Ganze als elegant versenkte Zeit sehen. Folgerichtig schmähten Kritiker Sudoku schnell als primitive kleine Cousine des Kreuzworträtsels (dabei muss man immerhin noch was wissen!). Zu dieser Einschätzung scheint zu passen, dass Hausfrauen zwischen 40 und 60 eine Hauptzielgruppe für die Sudoku-Heftchen sein sollen. Auf der Weltmeisterschaft in Croydon ist allerdings wenig von diesen Hausfrauen zu sehen. Die meisten Teilnehmer sind unter 40, gute zwei Drittel sind Männer. Ein Großteil soll hochbegabt sein. Insbesondere asiatische Länder schicken Teenager. China zum Beispiel suche die größten Sudoku-Talente mithilfe von Schulwettbewerben, erzählt man sich auf dem Turnier.

Wer aus Deutschland teilnehmen will, muss ein mehrstufiges Qualifikationsverfahren durchlaufen. Ins achtköpfige deutsche WM-Team haben es fast ausschließlich studierte Naturwissenschaftler und Mathematiker geschafft. "Ich bin hier die Ausnahme", sagt Kerstin Wöge. "Ich mache Mathe nur als Nebenfach." Dabei hat sie ihren Teamkollegen Michael Ley übersehen. Er arbeitet als Paketzusteller - und wird am Ende des Tages Platz 8 erreicht haben und damit der beste Deutsche sein. Was die Frage aufwirft: Was macht eigentlich einen guten Sudoku-Spieler aus?

"Die Mathematik dafür lernt man in der Grundschule", stellt Kerstin Wöge fest. "Aber man muss gut sein in analytischem Denken", präzisiert Ulrich Voigt. Er ist neunfacher Weltmeister im "Puzzle", eine Rätsel-Disziplin, bei der Teilnehmer vielseitige komplexe Knobelaufgaben lösen müssen. Weniger wichtig sei ein gutes Gedächtnis, sagt Voigt, der in diesem Jahr auch bei der Sudoku-WM antritt. Weil es in dem Wettbewerb auf Schnelligkeit ankommt, zählt am meisten wohl die Übung. Voigt selbst hat als Vorbereitung unter anderem einen 24-Stunden-Rätselmarathon am Computer absolviert.

Schnelligkeit muss sein, denn bei der Weltmeisterschaft kämpfen sich die Teilnehmer durch Dutzende Sudokus, die Stoppuhr im Rücken. In einem großen Saal mit Kronleuchtern an der Decke sitzen die 176 Teilnehmer wie Abiturienten bei der Abschlussklausur in langen Stuhlreihen. Aus elf Runden besteht die Vorentscheidung bei der WM, in jeder bekommen die Spieler ein neues Heftchen mit Rätselfeldern vorgelegt. Die zehn Zahlenkünstler mit den meisten gelösten Sudokus kommen weiter.

Bei Kerstin Wöge läuft es nicht wie erhofft. "Ich bin bisher mit jeder Runde schlechter geworden", seufzt sie am Ende des ersten Tages. Die Sudokus, die in Zeitschriften abgedruckt werden, löst sie zwar mühelos. Bei den Aufgaben der WM handelt es sich aber zum Teil um spezielle Kost, komplexe Varianten von Sudoku, von denen es mittlerweile Dutzende gibt. Sie tragen Namen wie Clone Sudoku, Cylindrical Sudoku oder No Touch Sudoku. Bei ihnen müssen Spieler zusätzliche Bedingungen beachten, wenn sie die Felder ausfüllen. Beim "Killer Sudoku" zum Beispiel, Kerstin Wöges Lieblingsvariante, ist die Summe benachbarter Felder vorgegeben.

"Wenn sie das Standard-Sudoku Tausende Mal gemacht haben, suchen die meisten Menschen eine neue Herausforderung", sagt der deutsche Teamcoach Stefan Heine. Er gestaltet hauptberuflich Sudokus und verkauft sie. Zusammen mit anderen Rätselfreunden trägt er dazu bei, dass der Community der Stoff nicht ausgeht. Auf Blogs und in Foren tauschen sich die Rätselfans regelmäßig aus. 6,6 Trilliarden verschiedene Sudokus kann es theoretisch geben - in der Standardvariante. Die Fülle ist aber fast zweitrangig. "Ich würde es nicht merken, wenn man mir nach einem halben Jahr wieder dasselbe Sudoku vorsetzt", sagt Kerstin Wöge.

Ihr Kopf brauche eben immer etwas zum Arbeiten, sagt die Studentin, deswegen knoble sie so gerne. Sudoku-Junkies beschreiben das Spielen als "totales Abtauchen". Sie schwärmen von dem Erfolgserlebnis, das sich einstellt, wenn sich bei einem weitgehend gelösten Sudoku die letzten offenen Lücken wie von selbst schließen. "Das hat schon etwas Ästhetisches", sagt der Mathematiker Robert Vollmert aus dem deutschen Team. Bei einem guten Rätsel könne man verfolgen, was sich der Ersteller der Aufgabe gedacht habe, die "Handschrift des Autors" werde sichtbar.

"Es geht auch ums Aufräumen, darum, Ordnung ins Chaos zu bringen", sagt Stefan Heine, der Teamcoach. Eskapismus für Menschen, die die Kehrwoche schätzen - ist diese Mischung das geniale Geheimnis hinter den Zahlenquadraten? Vielleicht erklärt sie zumindest die Hingabe der Teilnehmer bei der WM. Sie müssen Anreise, Unterkunft und Turniergebühren selbst zahlen, 800 Euro sind das pro Person, der Flug noch nicht eingerechnet. Ein Preisgeld, mit dem man diese Kosten wieder reinholen könnte, gibt es nicht. Ist die Sudoku-WM also wenigstens Urlaub? "Ja, aber er wirkt nur bedingt entspannend", sagt ein Teilnehmer.

So oder so: Für viele dürfte das Turnier eine willkommene Gelegenheit sein, andere Rätselfans zu treffen. Auf der Terrasse des viktorianischen Klinkerbaus sitzen ständig Spieler oder deren Angehörige, den Kopf in ein Sudoku gesenkt. Golf spielt dieser Tage fast niemand auf der gepflegten Anlage. Jede freie Minute wird geknobelt. Ein Mitglied des deutschen Teams hat einen besonders kniffligen Zauberwürfel entworfen, den er stolz beim Mittagessen präsentiert. In den Wartepausen packen Teams sonderbare Kartenspiele aus, deren Regeln sich Zuschauern nicht erschließen. Und als man beim Festessen am Abend am Tisch des deutschen Teams auf den Hauptgang wartet, packt die Hälfte der Anwesenden ihre Rätselblöcke aus.

Sogar während des Finales, bei dem die vier bestplatzierten Spieler gegeneinander antreten, löst mancher Zuschauer lieber selbst Rätsel, als den Meistern zuzuschauen. Dabei werden die Blätter, auf die die Finalisten schreiben, mit Kameras auf Leinwände übertragen. Aber selbst für Eingeweihte ist kaum nachvollziehbar, was die Cracks genau machen - so schnell huschen ihre Bleistifte über das Papier. So kommt auch wenig Spannung auf, als der Japaner Kota Morinishi überraschend den Favoriten aus Estland überholt und Japan den WM-Titel sichert. Kerstin Wöge landet am Ende auf Platz 71. "Etwas besser hätte es schon sein können", sagt sie abwinkend.

Sudoku ist kein Sport zum Mitfiebern, das wird bei der WM sehr deutlich. Das hält manchen aber nicht davon ab, abends mit einem Glas Wein davon zu träumen, Stefan Raab könnte die nächste WM in Deutschland ausrichten. Es werde immer schwerer, so ein Turnier zu organisieren, erläutert Stefan Heine. Nachwuchs gebe es kaum, genauso wenig wie Sponsoren. "Es sind fast immer die gleichen Leute bei der WM", sagt Heine. Zu den Boomzeiten des Sudokus hätten sich in Deutschland 1500 Leute um einen Platz im WM-Kader beworben, heute seien es noch 250.

Das Spiel mit dem japanischen Namen hat bei ernsthaften Knobelfreaks ohnehin keinen allzu guten Ruf. Am Anfang habe er mit Sudoku überhaupt nichts anfangen können, sagt Ulrich Voigt, der Rätsel-Großmeister. Und heute? "Es geht so." Bei der Sudoku-WM könne er die meisten Lösungen einfach runterschreiben. Selbst die unterschiedlichen Varianten des Sudokus bieten ihm nicht genügend Abwechslung. Er nehme nur an der WM teil, weil zwei Tage später im selben Hotel die "Puzzle"-WM stattfindet, die er mehrmals gewonnen hat. Dabei geht es um wesentlich komplexere Knobeleien.

Immerhin ist bei der Sudoku-WM nichts schiefgelaufen, so wie damals, 2007 in Prag. Da standen in einem Sudoku, das den Teilnehmern ausgeteilt wurde, plötzlich kyrillische Schriftzeichen statt Ziffern. Ein Fehldruck. Es soll angeblich einige Zeit gedauert haben, bis die Spieler protestierten. Sie hielten das fehlerhafte Sudoku zunächst für eine neue Variante ihres geliebten Spiels.

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Quelle:
SZ vom 16.08.2014
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