Cern:Physikern gelingt Durchbruch bei Suche nach Higgs-Boson

Ist das sogenannte Gottesteilchen gefunden, nach dem die Wissenschaft seit 30 Jahren suchen? Die Physiker, die heute im Cern bei Genf ihre spektakulären Messungen vorgestellt haben, halten es für wahrscheinlich. Endgültig festlegen wollen sie sich nicht. Sicher ist aber eins: Ihre Entdeckung wird die Wissenschaft einen großen Schritt voranbringen.

Ist es ein eindrucksvolles Zeugnis von "Understatement" oder einfach nur seriöses wissenschaftliches Vorgehen? Die Welt wartet auf eine Sensation, doch die Forscher am Cern bei Genf behaupten keineswegs lauthals, sie hätten das seit 30 Jahren intensiv gesuchte Higgs-Boson nachgewiesen.

Stattdessen verkündete Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer mit einer gewissen Ironie: Es ginge um einen bestimmten Partikel, aber "ich habe den Namen vergessen". Umgangssprachlich nennt man diesen bestimmten Partikel das Gottesteilchen, dem alle bekannte Materie seine Masse verdanken soll. Die Wissenschaft nennt es das Higgs-Boson nach dem Physiker Peter Higgs, der 1964 zum ersten Mal dessen Existenz vermutete.

Doch bei allem Understatement - am Ende der Veranstaltung, auf der die neuen Erkenntnisse vorgestellt werden, kommt Heuer zu dem Schluss: "Wir haben etwas beobachtet, das mit der Existenz eines Higgs-Bosons übereinstimmt. Aber mit welchem?" Das ist das Problem mit diesem Partikel. Es gibt ihn, er wurde nun also auch beobachtet. Aber sonst sind weiterhin noch viele, viele Fragen offen.

Gutem wissenschaftlichen Stil entsprechend beschreibt deshalb Joseph Incandela, Chef des CMS-Experiments am Cern, im Rahmen eines "Seminars" am Forschungszentrum, ausführlich, was sie gemessen haben, benennt alles, was die Wissenschaftler schon kennen. Dann stellt er fest: Die Masse des neu entdeckten Teilchens liegt bei 125 Gigaelektronenvolt. Das wurde im Rahmen des CMS- und auch des Atlas-Experiments festgestellt. Und für die Wissenschaftler ist es ein starker Hinweis darauf, dass es sich um das Higgs-Boson handeln könnte. Die Signale des neuen Teilchens liegen im Signifikanzbereich von 5 Sigma. Das gilt als Grenze, damit eine Entdeckung wirklich anerkannt ist.

Doch was Incandela sagt, ist lediglich: "Wir haben ein neues Boson beobachtet."

So weit, so eindeutig. Das hatte man den Gerüchten zufolge, die unter Physikern schon seit Wochen kursierten, erwartet. Doch die Forscher scheuen weiterhin die Behauptung, dass es sich tatsächlich genau um jenen Partikel handelt, dessen Existenz Peter Higgs vermutet hatte. Vielleicht muss man das Bild von diesem Teilchen korrigieren, vielleicht aber stoßen die Forscher mit ihrer Entdeckung eine Tür auf zu ganz neuen Vorstellungen von dem, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Urheber der Masse

Das nach dem Briten benannte Teilchen ist so schwer fassbar wie bedeutend. Das Higgs-Boson soll der Urheber der Masse aller Dinge sein. Ohne diese gäbe es keine Atome und keine normale Materie. Denn erst die Masse sorgt dafür, dass die Grundbausteine der Materie zusammenhalten und miteinander wechselwirken. Lange Zeit aber konnte das Standardmodell der Teilchenphysik - und damit die Basis unseres physikalischen Weltbilds - nicht erklären, woher die Elementarteilchen diese wichtige Eigenschaft haben.

Cern: Spuren einer Kollision von zwei Protonen im Rahmen des CMS-Experiments am Cern. Mit diesen Versuchen wollen die Physiker den Higgs-Bosonen auf die Spur kommen. Nun haben sie einen Durchbruch erzielt.

Spuren einer Kollision von zwei Protonen im Rahmen des CMS-Experiments am Cern. Mit diesen Versuchen wollen die Physiker den Higgs-Bosonen auf die Spur kommen. Nun haben sie einen Durchbruch erzielt.

(Foto: AFP/Cern)

Als Peter Higgs Mitte der 1960er Jahre den Higgs-Mechanismus entwickelte, ging es um eine Theorie, die dieses Manko des Standardmodells beseitigen sollte. Überall im Universum existiert demnach ein sogenanntes Higgs-Feld. Teilchen treten mit diesem unsichtbaren Feld in Wechselwirkung, dadurch bildet es eine Art Klumpen um das Partikel. Dieser Klumpen verleiht ihm seine Masse. "Wenn es diesen Higgs-Mechanismus nicht gäbe, hätten wir keine Substanz, wir würden uns einfach auflösen", sagte Joseph Incandela vor dem Seminar.

In einer bekannten Analogie vergleicht der britische Physiker David Miller das Higgs-Feld mit einer Cocktail-Party. Betritt eine bedeutende Persönlichkeit, beispielsweise ein bekannter Politiker, den Raum, sammelt sich schnell eine Traube anderer Gäste um ihn. Der Politiker kann sich vor lauter Menschen kaum mehr vorwärtsbewegen - ähnlich einem Teilchen mit hoher Masse, das nur mit viel Energie beschleunigt werden kann.

Doch damit ist das Bild noch nicht vollständig. Denn gibt es den Higgs-Mechanismus, dann muss es auch ein dazugehörendes Teilchen geben - das Higgs-Boson. "Die theoretischen Annahmen sagen dies voraus", sagt Guido Altarelli, theoretischer Physiker am Cern. Das Higgs-Boson entsteht demnach, wenn sich das Higgs-Feld an bestimmten Stellen verdichtet. In der Cocktail-Party-Analogie wäre das der Fall, wenn die Gäste Grüppchen bilden, weil sie beispielsweise gerade den neuesten Tratsch austauschen.

Mehr als 30 Jahre lang war das Higgs-Boson das einzige Teilchen im Standardmodell der Physik, das noch nie experimentell nachgewiesen wurde. "Seit mehr als 30 Jahren spekuliert man darüber, wo sich das Higgs-Boson verbergen könnte", sagt Altarelli. Denn man wisse zwar, dass das Higgs-Boson eine Masse habe, nicht aber, welche. In den vergangenen Jahren ist es den Physikern immerhin gelungen, den Suchbereich deutlich einzuengen.

"Bis zum Sommer 2011 wurde klar, dass Higgs-Bosonen sich nicht oberhalb einer Masse von etwa 140 Gigaelektronenvolt befinden können", berichtet Incandela. Das hätten Experimente am Teilchenbeschleuniger Tevatron Collider in den USA ergeben. In Elektronenvolt wird die Energie angegeben, die man braucht, um ein Teilchen zu beschleunigen. Da sie eng mit dessen Masse verknüpft ist, verwenden Physiker diese Einheit auch als Massenangabe für Elementarpartikel.

Ende 2011 schränkten Ergebnisse am Large Hadron Collider (LHC) des Cern die mögliche Masse des Higgs-Bosons noch weiter ein: Zwischen 116 und 127 Gigaelektronenvolt müsse sie liegen, berichteten die Cern-Forscher damals. Sie fanden sogar erste Indizien für ein Partikel mit 124 bis 126 Gigaelektronenvolt Masse. Für Sommer 2012, so kündigten sie damals an, seien weitere, eindeutigere Ergebnisse zu erwarten - und möglicherweise dann endlich der langersehnte Nachweis des Higgs-Bosons.

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