Stuttgart 21:"Alte Bäume zu verpflanzen, ist Unfug"

Heiner Geißler fordert, für den umstrittenen Bahnhof in Stuttgart ausschließlich kranke Bäume zu fällen, gesunde aber umzupflanzen. Ist das sinnvoll oder nur "pure Propaganda", wie Kritiker sagen?

Katrin Blawat

Die Frage ist noch nicht ganz ausgesprochen, da gibt Ulrich Kohnle schon die Antwort. Wie man einen hunderte Jahre alten Baum verpflanze? "Am besten gar nicht", sagt Kohnle, Leiter der Abteilung Waldwachstum der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt in Freiburg.

Er wird noch deutlicher: "Alte Bäume zu verpflanzen, ist aus biologischer Sicht Unfug. Wesentlich sinnvoller wäre es, stattdessen neue, junge Bäume zu pflanzen. Dass ein Baum durch einen anderen ausgetauscht wird, passiert in der Natur schließlich ständig. "

Mit seiner Einschätzung stimmt der Wissenschaftler jenen Gegnern des Großprojekts Stuttgart 21 zu, die in dem von Schlichter Heiner Geißler propagierten Kompromiss "pure Propaganda" sehen. Der umstrittene Bahnhof dürfe nur gebaut werden, wenn ausschließlich kranke Bäume gefällt würden, hat Geißler entschieden. Gesunde Exemplare müssten umgepflanzt werden.

Ob ein Baum krank ist, beurteilen Experten aufgrund standardisierter Kriterien. Abgestorbene Äste allein sind dabei wenig aussagekräftig, denn wie die Falten im Gesicht eines 80-jährigen Menschen gehören sie zu den normalen Alterszeichen eines Baumes. Einige der in Stuttgart umkämpften Gehölze sind 200 Jahre alt.

Seit vor zwei Monaten die ersten Bäume gefällt wurden und daraufhin die Konflikte um den neuen Tiefbahnhof ihren Höhepunkt erreichten, ist klar: Die Entscheidung, ob die 282 Kastanien, Buchen, Eichen, Pappeln, Rubinien, Linden, Ahornbäume und Platanen - und das ist nur eine Auswahl der betroffenen Arten - wegen des Projekts gefällt werden müssen oder stehen bleiben dürfen, hat hohen Symbolwert.

So billigen auch Wissenschaftler Geißlers Kompromiss allenfalls unter diplomatischen Gesichtspunkten. Einen ökologischen Nutzen gebe es nicht, wie Kohnle sagt: "Man darf davon ausgehen, dass der Baum die Aktion gar nicht toll findet und sie in vielen Fällen auch nicht überlebt."

Das Problem bei der Verpflanzung ist der Wurzelballen, der je nach Baumart umfangreicher sein kann als die Krone - zwölf Meter im Durchmesser erreicht das Wurzelgeflecht bei vielen Arten. Doch der Ballen leide während des Umzugs, sagt Kohnle: "Man bekommt nie alle Wurzeln mit."

Zum Überleben braucht ein Baum außerdem Erde - und zwar nicht irgendwelche, sondern die gewohnte, im Wurzelballen eingeschlossene. Ein Baum mag das, was er kennt: jene einzigartige Mischung aus Bakterien, Pilzen und anderen Kleinstlebewesen, wie sie nur in seiner Heimaterde vorkommt. Sogar wenn Bäume nur wenige hundert Meter umziehen, müssen sie dort mit anderen Mikroorganismen zurechtkommen - viele Exemplare verkraften das nur schlecht.

Technisch möglich

Um die Anpassung zu erleichtern, wird oft die Baumkrone um etwa ein Drittel beschnitten, also jener Teil der Pflanze, die den größten Teil der über die Wurzeln aufgenommenen Nährstoffe benötigt. Wie gerupft sehen die Bäume danach aus, monieren Kritiker; Baumverpflanzungs-Experten halten diesen Eingriff allerdings für unerheblich.

Neben wissenschaftlichen Einwänden gibt es auch praktische: Nur mit teurem Spezialgerät lassen sich ausgewachsene Bäume umziehen. Für Bäume, deren Stammdurchmesser weniger als etwa 40 Zentimeter beträgt, gibt es sogenannte Rundspaten-Maschinen. Diese Fahrzeuge ähneln auf den ersten Blick denen der Müllabfuhr, besitzen aber einen Hebearm, an dem sich zwei halbkreisförmige Spaten befinden.

Innerhalb einer halben Stunde lässt sich damit ein Baum ausstechen und aufladen. Einen Baum auf diese Weise umzusiedeln, koste 1000 bis 1500 Euro, schätzt Heike Braam, Geschäftsführerin der Opitz GmbH in Franken. Die Firma ist die deutsche Zentrale der Deutschen Gesellschaft für Großbaumverpflanzung.

Zusätzlich fallen Kosten für die Rehabilitation des Baumes in der neuen Umgebung an: Er muss zum Beispiel verankert werden, der Stamm erhält einen Mantel zum Schutz vor Verdunstung. Von der Sorgfalt, mit der man diese Nachsorge betreibe, hänge auch die Überlebensrate der umgesiedelten Bäume ab, sagt Braam. Im Gegensatz zu Ulrich Kohnle von der Forstlichen Versuchsanstalt hält sie eine Erfolgsquote von 95 Prozent jedoch für realistisch.

Allerdings eignet sich nur ein Teil der knapp 300 Bäume rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof für einen Umzug. Braam schätzt deren Zahl auf etwa 100, nachdem sie selbst die Situation vor Ort begutachtet hat. Viele der alten Gewächse haben einen Stamm von bis zu vier Meter Durchmesser - und sind damit sogar für die Spezial-Maschinen zu groß. Sie könnten allein auf einem enorm teuren Schienen-System umziehen.

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