Prof. Dr. Ulrich Hegerl von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Leipzig, ist Netzwerksprecher des Kompetenznetzes Depression.
sueddeutsche.de: Eine Studie der britischen University of Hull besagt, dass die neuen Antidepressiva nur in ganz wenigen und schweren Fällen von Depressionen wirklich helfen. Sie sind Sprecher des Kompetenznetzes Depression in Deutschland. Was sagen Sie zu diesen Ergebnissen?
Hegerl: Die Berichterstattung wird die Betroffenen verunsichern. Und ich befürchte, dass sie einige Menschenleben kosten wird.
sueddeutsche.de: Sie meinen, die Selbstmordrate wird steigen?
Hegerl: Ja. Ob die Suizidrate signifikant nach oben geht, wird sich zeigen. Aber manche Patienten werden die Mittel absetzen, wieder krank werden und sich das Leben nehmen.
sueddeutsche.de: Aber wenn diese Mittel tatsächlich nicht wirken, darf man doch diese Meldung nicht unterdrücken.
Hegerl: Die Schlussfolgerung dieser Übersichtsstudie beruht aber auf mehreren Fehlern. Klinische Studien wie die, die Kirsch und sein Team von der University of Hull überprüft haben, sollten die prinizipielle Wirksamkeit der Antidepressiva überprüfen. In solchen Untersuchungen werden die Patienten umsorgt, aktiviert, sie erhalten Zuspruch, es wird ihnen Hoffnung vermittelt. Dabei kommt es zu einem riesigen Placebo-Effekt.
Deshalb ist der Unterschied zwischen der Wirkung der Scheinmedikamente, die da verabreicht werden, und den echten Mitteln, so gering, wie Kirsch jetzt kritisiert. Denn diese Versorgung hilft zwar auch den Patienten, die das echte Medikament erhalten, die Wirkung der Maßnahmen addiert sich aber nicht.
Würde man übrigens ähnlich strenge Kriterien an den Wirkungsnachweis der Psychotherapie anlegen, so wäre deren Wirksamkeit auch nicht belegt.
sueddeutsche.de: Im Alltag kann sich ein Arzt natürlich nicht so intensiv um die Patienten kümmern.
Hegerl: Deshalb lässt sich aus diesen klinischen Studien auch nicht schließen, wie groß der Nutzen im täglichen Gebrauch tatsächlich ist. Hinzu kommt, dass man in der täglichen Versorgung nach zwei oder drei Wochen, wenn sich keine Besserung zeigt, auf ein anderes Antidepressivum umsteigt.
Die Chancen, das für den individuellen Patienten wirksamste Medikament zu finden, erhöht sich damit.
sueddeutsche.de: Das klingt aber auch nicht nach einer optimalen Behandlungsmöglichkeit.
Hegerl: Davon sind wir weit entfernt. Aber trotzdem ist es sein Segen, dass es die Mittel gibt. Sie sind der Hauptgrund dafür, dass die Selbstmordraten in Deutschland und Europa in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen sind.
sueddeutsche.de: Auf der anderen Seite sind die Mittel aber stark in die Kritik gekommen, weil sie unter Kindern und Jugendlichen das Selbstmordrisiko erhöhen sollen.
Hegerl: In Studien mit Kindern und Jugendlichen wurde festgestellt, dass es während der Behandlung mit Antidepressiva zu mehr Suizidgedanken und zu selbstschädigendem Verhalten gekommen war. Tatsächlich umgebracht hatte sich kein einziger der Studienteilnehmer. Es wurde natürlich zu Recht darauf hingewiesen, dass man bei Kindern und Jugendlichen vorsichtig sein muss.
Die Wirksamkeit der Mittel ist bei Kindern und Jugendlichen außer für Fluoxetin (Prozac) auch nicht belegt. Aber nach den Berichten über die Studie waren Hausärzte und Eltern verunsichert. Die Verschreibungen gingen in den USA um mehr als 20 Prozent zurück. Und danach kam es in der betroffenen Altersgruppe erstmals seit vielen Jahren zu einem steilen Anstieg der Selbstmordrate. Das zeigt, wie gefährlich solche Berichte sein können.
sueddeutsche.de: Wenn die neuen Mittel in die Kritik kommen, empfiehlt es sich dann nicht, wieder auf ältere Medikamente wie die trizyklischen Antidepressiva zurückzugreifen?
Hegerl: Es ist nicht gesichert, dass die älteren Mittel wirksamer sind. Sie haben auch den Nachteil, dass sie bei Überdosis gefährlicher sind.
sueddeutsche.de: Der Umgang der Pharmaindustrie mit den eigenen Daten rechtfertigt doch das Misstrauen gegenüber den Unternehmen. Da wurden zum Beispiel Daten, die die Wirksamkeit der Mittel nicht belegen konnten, nicht veröffentlicht. Und die Firmen wollen ihre Medikamente schließlich verkaufen.
Hegerl: Das Problem war früher auch größer. Inzwischen müssen die Unternehmen aber ihre Studien bei den Behörden einreichen. Die Pharmaindustrie muss gezwungen werden, alle, auch negative Daten, offenzulegen und zu veröffentlichen. Hier sind strenge Auflagen nötig, damit bei den Ärzten nicht falsche Eindrücke geweckt werden. Die Pflicht gegenüber den Zulassungsbehörden, alle Daten offenzulegen, besteht jetzt schon.
sueddeutsche.de: Von dort finden sie aber nicht immer den Weg in die Öffentlichkeit.
Hegerl: Das stimmt. Bei der Veröffentlichung können sie tricksen, damit die Ergebnisse kein so breites Publikum finden. Da wird manchmal versucht, einen falschen Eindruck zu erwecken und es ist gut, da weiter den Finger in die Wunde zu legen. Aber das bedeutet nicht, dass die Antidepressiva im Alltag nicht helfen. Mit etwas Geduld und manchmal mehreren Anläufen findet man für die meisten Patienten ein Antidepressivum, das sowohl hilft als auch vertragen wird.
sueddeutsche.de: Was raten Sie den Betroffenen jetzt?
Hegerl: Dass sie die Mittel nicht absetzen sollen, weil die Studie von Kirsch zu einem Trugschluss führt. Sie sollen mit ihrem Arzt sprechen. Der muss ihnen erklären, was dahintersteckt.