Süddeutsche Zeitung

Stringtheorie:Der Schwingung der Welt auf der Spur

Die Stringtheorie will ein ewiges Problem lösen: die Vereinigung von Schwerkraft und Teilchenphysik. Aber auf dem Weg dorthin irren die Physiker im Multiversum umher - oder wildern in anderen Gebieten.

Marlene Weiss

Auf der Bühne im Vortragssaal steht ein Typ mit langen dunklen Locken. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, Shorts und Treckingsandalen. Die Tafel ist mit Formeln bedeckt, das 102-seitige bunte Gekritzel zum Vortrag gibt es im Internet. Zufällig ist der Mann ein brillanter Professor in Princeton; so etwas fällt sonst nur Autoren von Schundliteratur ein. Wer die Jahrestagung der Stringtheorie besucht, die diese Woche in München stattfindet, muss akzeptieren, dass die Realität ein Klischee sein kann.

Trotzdem hat sich viel geändert. Es ist noch keine 15 Jahre her, da galten Stringtheoretiker als eine Art Kreuzung aus Einstein, Sokrates und Superman, eifrig dabei, an den letzten Details der Weltformel zu feilen. Als die auf sich warten ließ, waren sie plötzlich als eine Sekte verrufen, die stur einem kollektiven Hirngespinst hinterherrannte.

Und heute? Es ist ruhiger geworden um die Theorie, die seit 40 Jahren versucht, die Schwerkraft mit der Quantenmechanik unter einen Hut zu bringen. Aber wo die Reise hingeht - das scheint wirklich niemand mehr zu wissen.

Nicht einmal Edward Witten, der seit Langem als Vordenker verehrt wird. Er hat kurze graue Haare, eine hohe Stirn, aber alle reden immer nur von seiner Stimme: Hoch, heiser und monoton ist sie; er spricht atemberaubend schnell. Als im Jahr 1999 zuletzt eine String-Jahreskonferenz in Deutschland stattfand, war Witten noch zuversichtlich, dass sich der Nebel lichten würde; dass bald ein Experiment bestätigen würde, dass die Stringtheoretiker recht haben.

Bislang ist die Theorie nur ein Gedankenkonstrukt. Damals sahen viele schon die Antwort auf alle Fragen der Physik am Horizont; die String-Konferenz kam auf die Titelseite des Spiegel. Doch das Experiment blieb aus, und die Theorie ist noch viel komplizierter geworden.

"Ich bin einer von denen, die auf eine Erklärung hoffen", sagt Witten heute mit dieser unglaublichen Stimme. "Aber vielleicht ist das Universum nicht so, wie wir es gerne hätten." Es klingt fast entschuldigend. Vielleicht ist vieles Zufall, vielleicht hat man nur noch viel weniger von der Theorie verstanden, als man einst dachte.

Kein Wunder. Immerhin behauptet sie, dass die Welt voller schwingender Saiten ist, den Strings. Ihre Schwingungen sollen alle Teilchen und Kräfte, also sogar Schwerkraft und Licht erzeugen, so wie Geigensaiten Töne. Die Welt mit ihren Ecken und Kanten und Euro-Krisen wäre eine Illusion, die dieses Konzert hervorruft. Damit das mathematisch aufgeht, müsste sie mindestens sechs zusätzliche, unsichtbare Dimensionen haben - auch das noch.

Aber bis heute gibt es keinen besseren Vorschlag, um das große Dilemma der Physik zu lösen: dass Einsteins Theorie der Schwerkraft nicht zur Quantenmechanik und damit auch nicht zur Teilchenphysik passt. Dabei wurden beide oft bestätigt. Aber während die Teilchenphysik darauf beharrt, dass alles nur in Paketen vorkommt - also sogar Licht aus Teilchen besteht - lässt sich die Schwerkraft partout nicht in solche Pakete aufteilen. Die Stringtheorie bringt die beiden Unvereinbaren nun zusammen wie Essig und Öl in der Salatsoße.

Leider kommt dabei eine riesige Zahl möglicher Theorien heraus. Das Standardmodell der Teilchenphysik, wie die Physiker es nennen, ist dabei noch nicht aufgetaucht. Immerhin, unter all den Stringwelten sind auch solche, die ihm ähneln - nur enthalten sie nicht alle Teilchen gleichzeitig und nicht exakt so, wie wir sie kennen. "Die Zutaten sind da", sagt Witten vorsichtig.

Dieter Lüst, Stringtheoretiker in München, ist forscher: "Wir haben das Standardmodell im Grunde schon gefunden", sagt er. Wen kümmern schon Details, könnte man lästern. Aber es wäre ungerecht, denn Lüst ist einer derjenigen, die am hartnäckigsten die Realität in all den Stringwelten gesucht haben.

Aber ein Leben lang nach der Nadel im Heuhaufen suchen, das könnte mehr sein, als ein Mensch ertragen kann. Und selbst wenn sie auftaucht: So viel bringt das nicht. Denn wenn es fast alles in der Theorie gibt, wäre unser Universum nur eines von vielen im sogenannten Multiversum; nur mit der Besonderheit, dass es menschliches Leben zulässt.

Dagegen haben sich Physiker lange gewehrt, heute haben die meisten die Idee akzeptiert, wenn auch teils sehr widerwillig. Denn eine Erklärung, warum die Dinge sind, wie sie sind, könnte man dann wohl vergessen. Und der Optimismus der Neunzigerjahre wäre verfrüht gewesen. "Es war ein trügerischer Eindruck, dass wir kurz davor sind", sagt Lüst. Damals habe man sich nicht ans Multiversum herangetraut, heute schon: "Die Diskussion ist ehrlicher und interessanter geworden." Er hofft, dass auch das Multiversum Spuren hinterlässt, die man irgendwann messen kann.

Wenn man Andrew Strominger vorschnelle Versprechungen der Stringtheorie vorwirft, protestiert er energisch. "Ich habe immer gesagt: Wir wissen nicht, ob es alles stimmt, wir haben kein Experiment, aber das haben die Journalisten nie zitiert!", sagt der Harvard-Professor. Stattdessen seien erst die Erfolge und dann die Probleme der Strings aufgeblasen worden. "Was wir tun, ist an den Grenzen des Wissens. Man weiß nie, was als nächstes kommt, man sollte keine festen Erwartungen haben", sagt Strominger.

Trotzdem glaubt er nach wie vor fest daran, dass die Stringtheorie in die richtige Richtung geht. Weil mathematisch alles so perfekt zusammenpasse, weil sie viele alte Probleme löse, weil es nur positive Zeichen gebe. Vielleicht braucht es wirklich nur noch etwas Geduld.

Bis dahin arbeiten die Physiker da, wo es vorangeht - und das sind besonders praktische Anwendungen der Stringtheorie. Möglich gemacht hat das eine einzige Arbeit von Juan Maldacena von 1997, sie wurde bislang 8408-mal zitiert. "Das haben viele Leute zusammen gemacht", sagt der schmale Argentinier heute bescheiden. "Na gut, ich war der Erste." Aber dass es so wichtig sein würde, ahnte er nicht.

Er hat damals vorgeschlagen, dass die Schwerkraft in einem Raum mathematisch einer schwerelosen Welt in einem anderen entsprechen könnte. Das klingt abstrakt, ist nicht bewiesen; und was es wirklich bedeutet, das versuchen die Physiker erst herauszufinden. Aber schon jetzt hat es Dinge ermöglicht, mit denen niemand rechnete.

Es ist wie bei einem See", versucht Maldacena das hilflos zu erklären. "Die Oberfläche sieht glatt aus, Insekten laufen darauf. Aber mikroskopisch gibt es keine Oberfläche, da wackeln nur Moleküle; und daraus geht die Oberfläche hervor." Wir leben sozusagen auf der Oberfläche; was immer es ist, was Raum, Zeit und Schwerkraft ausmacht, geschieht anderswo.

Diese Entsprechung erlaubt sagenhafte Anwendungen der Stringtheorie auf Gebiete, die herzlich wenig mit ihr zu tun haben. Sogar bestimmte Supraleiter, Materialien also, die Strom ohne Widerstand leiten, kann man dank Maldacena und seinen Nachfolgern mit Stringmethoden beschreiben.

Einst wollte diese Theorie die Welt erklären; vorerst ist sie immerhin ein praktisches Werkzeug. Als hätte man lange an einer komplizierten Skulptur gefeilt, die sich plötzlich als hervorragende Gießkanne erweist.

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Quelle:
SZ vom 25.07.2012/mcs
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