Streit um Milchzähne:Bürsten statt bohren

Muss Karies an Milchzähnen behandelt werden? Unnötig, sagen britische Zahnärzte. Doch deutsche Experten warnen vor den Folgen des langsamen Gammelns.

Christina Berndt

Wenn Denis lacht, blitzen seine Zähne. Allerdings ist es vor allem Gold, das dem Lachen des Fünfjährigen aus München besonderen Glanz verleiht. Vier Kronen hat Denis in den vergangenen sechs Monaten schon bekommen, und nun hat die Zahnärztin auch noch eine Zahnzwischenraumkaries entdeckt.

Streit um Milchzähne: Die Milchzähne fallen sowieso irgendwann aus - soll man sie deshalb nicht behandeln?

Die Milchzähne fallen sowieso irgendwann aus - soll man sie deshalb nicht behandeln?

(Foto: Foto: AP)

Zwischen zwei Backenzähnen frisst, von allen Bürstenborsten unerreicht, eine Bakterienkolonie vor sich hin. Bald werden noch zwei weitere Zähne angebohrt. Denis ist gar nicht mal ein Extremfall.

Fast jedes zweite Kind hat Karies im Milchgebiss. Noch bevor die bleibenden Zähne da sind, haben sich Streptokokken in der Mundhöhle festgesetzt und lassen die Zähne verfaulen.

Das finden britische Zahnärzte zwar genauso wenig erfreulich wie ihre deutschen Kollegen, aber sie raten jetzt zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: zu keiner.

Es bringe den Kindern nicht viel, wenn der Zahnarzt die Karies wegbohre und die Löcher fülle; genauso gut könne er die Milchzähne unbehandelt lassen, bis sie nach ein paar Jahren sowieso ausgefallen sind, ist Martin Tickle von der Universität Manchester überzeugt.

Zu seinem pragmatischen Schluss ist der angesehene Spezialist für Dental Public Health nach einer dreijährigen Studie an 739 Kindern gelangt (International Journal of Paediatric Dentistry, Bd.19, S.225, 2009).

Was das Auftreten von Schmerzen und die Zahl gezogener Zähne betrifft, folgert er, mache es keinen großen Unterschied, ob der Zahnarzt bohrt oder nicht. Nur wenn ein Kind schon Schmerzen hat, würde sich auch Tickle ans Flicken machen.

Das Dilemma ist: Für die Kariesbehandlung bei Milchzähnen gibt es keine klaren Handlungsanweisungen. Auch in Deutschland existieren nur Empfehlungen. Um Leitlinien zu erarbeiten, will der britische National Health Service nun 1000 Kinder im Rahmen einer Studie behandeln.

Problematische Keime

Manche sollen Füllungen bekommen, andere nicht und wieder andere nur einen Fluoridlack, der die Karies bremsen oder gar stoppen kann. Welche Maßnahme gewinnen werde, sei völlig offen, sagt Gail Topping von der University of Dundee, die die Studie leiten wird. "Im Moment wissen wir einfach nicht, was wir empfehlen sollten."

Die meisten deutschen Experten aber bekommen Zahnweh, wenn sie die Nachrichten aus Großbritannien hören. Für sie ist es keine Frage, dass eine Karies im Milchgebiss behandelt werden muss - auch wenn sie noch keine Schmerzen verursacht.

"Ich sehe den britischen Vorstoß mit äußerster Skepsis", sagt Norbert Krämer vom Universitätsklinikum der TU Dresden, künftiger Präsident der European Academy of Paediatric Dentistry. "Symptomlos heißt ja nicht problemlos." Die Fäule könne sogar bis zum Nerv fortschreiten, ohne dass das Kind allzu große Schmerzen habe.

Unbehandelt erhöhe sich mit der Zeit die Zahl problematischer Keime; so wüchsen in den untersten Schichten der Karies besonders unangenehme Bakterienstämme heran, die keinen Sauerstoff zum Leben benötigen.

Ein solcher ständiger Infekt in der Mundhöhle könne sich auch negativ auf die Immunabwehr des Kindes auswirken, ergänzt Reinhard Hickel von der Poliklinik für Zahnerhaltung der Uni München: "Das ist ähnlich wie mit einem rostigen Nagel im Schienbein." Die Kinder hätten dann häufig auch andere Beschwerden.

Zweimal täglich Zähneputzen

"Es muss sicher nicht alles behandelt werden", sagt Hickel. So lasse sich eine Karies, die auf den Zahnschmelz begrenzt sei, zunächst mit Fluorid in Schach halten. "Aber wenn ein tiefer Defekt vorliegt, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu bohren."

Das langsame Gammeln könne sonst auch auf die bleibenden Zähne übergehen. "Ein gesundes bleibendes Gebiss", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde (DGK), Christian Hirsch, "tritt nicht wie Phoenix aus einem defekten Milchgebiss hervor".

Die Gebisse der Deutschen haben sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Freude bereiten den Experten allerdings vor allem die bleibenden Zähne. "Im Milchgebiss ist der Kariesrückgang vergleichsweise gering", beklagt die DGK. Zudem gibt es einen unerfreulichen Trend: Die Kinder aus gesundheitsbewussten Elternhäusern haben immer bessere Zähne, die Kinder aus sozial schwachen Familien dafür immer schlechtere.

Der Erfolg der engagierten Eltern hat eindeutige Wurzeln: zweimal täglich Zähneputzen von den ersten Zähnen an; fluoridhaltige Zahnpasta; nie Löffel oder Sauger des Kindes ablecken; und nachputzen bis ins Schulalter. Doch während die einen schon Babys erste Zähne hingebungsvoll schrubben, haben die anderen ihren Kindern bis zum Schuleintritt noch keine Zahnbürste gekauft.

Schon bei 15 Prozent aller Dreijährigen sind deshalb drei bis vier Zähne befallen. "Viele Eltern denken, sie müssten ihre Kinder erst zur Einschulung einem Zahnarzt vorstellen, aber dann ist es oft zu spät", sagt Ulrich Schiffner vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Kinderzahnärzte wie er wollen die Kleinen am liebsten schon mit zwölf Monaten sehen.

Zähne bis ins Grab

Das halten manche Zahnärzte nun wieder für übertrieben. Missgünstig blicken sie auf die wachsende Konkurrenz aus den Kinderpraxen. Fachlich sei am Bedarf an den Spezialisten aber nicht zu rütteln, sagt Herbert Michel vom Vorstand der Bayerischen Landeszahnärztekammer. Nicht umsonst habe es in der DDR einen Fachzahnarzt für Kinder gegeben, betont auch Schiffner.

"Man nimmt für Kinderzähne schließlich nicht einfach nur einen kleinen Bohrer." Es gebe zudem spezielle Anforderungen an Füllungsmaterialien und Kleber, weil Milchzähne auch im Aufbau besonders sind. Allerdings kann jeder Zahnarzt "Schwerpunkt Kinderzahnheilkunde" auf sein Praxisschild schreiben.

Nur wer den Titel "Spezialist für Kinderzahnheilkunde" trägt, hat zwingend eine jahrelange Spezialausbildung hinter sich und eine Prüfung, die laut Hickel das Niveau einer Fachzahnarztprüfung hat.

Die dritten Zähne, für deren Haftcremes noch vor wenigen Jahren unaufhörlich Fernsehwerbung lief, gehörten früher zur Oma dazu wie die Küchenschürze. Für die Kinder von heute aber sind sie kein unausweichliches Schicksal mehr. Angesichts der gewaltigen Fortschritte gerade in der Prophylaxe könnten sie ihre eigenen Zähne bei guter Pflege bis ins Grab behalten.

Trotzdem müssen es Eltern auch nicht übertreiben, meint DGK-Präsident Hirsch. "Man kann bereits bei den Kleinen Zahnseide und Fluoridlacke verwenden, aber man sollte auch auf dem Teppich bleiben. Wir wären einfach schon froh, wenn alle Kinder zweimal täglich Zähne putzen würden."

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