Er wirkt heute ziemlich unscheinbar, aber der sogenannte Altarstein war einst womöglich der wichtigste Stein von Stonehenge. Ob er wirklich als Altar diente, ist zwar unbekannt. Doch als die Menschen im Süden Großbritanniens vor etwa 4500 Jahren zunächst Menhire, später auch riesige Sandsteinblöcke aufrichteten und jenes rätselhafte Bauwerk schufen, das heute „Stonehenge“ genannt wird, da setzten sie diesen Stein in die Mitte.
Der Steinkreis in der Nähe von Salisbury wird jährlich von mehr als einer Million Menschen besucht, doch den Altarstein, immerhin fünf Meter lang, einen Meter breit und einen halben Meter dick, nimmt von diesen gewöhnlich niemand zur Kenntnis. Denn der Stein hatte Pech. Sofern er einmal aufrecht stand, kippte er um. Und heute liegen zwei andere, tonnenschwere Blöcke auf ihm und drücken ihn in den Boden, sodass er kaum noch zu sehen ist.
Doch aus dieser unterdrückten Lage heraus lässt der Altarstein nun aufhorchen – denn einer geowissenschaftlichen Analyse zufolge stammt er ursprünglich vom anderen Ende Großbritanniens. Rund 800 Kilometer Luftlinie weit ist er demnach einst an seinen heutigen Ort transportiert worden. Kein anderer Stein in Stonehenge hat eine so weite Reise hinter sich. Ein Transport in dieser Dimension sei bislang überhaupt von keinem Stein eines Monuments jener Zeit bekannt, heißt es von den Forschern um den Mineralogen Anthony Clarke von der Curtin University in Australien. Die Reise des Altarsteins zeige, dass die Briten der Jungsteinzeit über die ganze Insel hinweg miteinander vernetzt gewesen sein müssen.
Sie werden wegen ihrer Färbung aber alle „Blausteine“ genannt
Für ihre Analyse nahmen die Forscher Proben von zwei in der Vergangenheit entnommenen Fragmenten des Altarsteins, die heute in Museen aufbewahrt werden. Diese Stücke untersuchten sie auf ihr Alter und ihre mineralogische Zusammensetzung. Und wie sie nun im Wissenschaftsjournal Nature berichten, passt diese so gar nicht zu dem, was man bislang über die Herkunft des Steins gedacht hatte.
Stonehenge, dachte man bislang, besteht im Wesentlichen aus zwei unterschiedlichen Steintypen. Da sind erstens die großen, auffälligen Steine. Sie bilden jenen spektakulären Ring aus einst 30 aufrecht stehenden und ebenso vielen auf ihnen liegenden Blöcken sowie außerdem fünf große Tore, die innerhalb dieses Rings in Form eines Hufeisens angeordnet sind. Diese Blöcke bestehen aus Sandstein und stammen sehr wahrscheinlich aus den Marlborough Downs, einer Hügellandschaft etwa 25 Kilometer nördlich von Stonehenge. Aus demselben Material sind einzelne Blöcke, die außerhalb des Steinkreises platziert wurden, wie der sogenannte Opferstein.
Zweitens gibt es die kleineren Steine: Zwischen dem großen Ring und den fünf Toren stand einst ein Steinkreis aus 60 kleineren Menhiren. Dazu kamen 19 Steine, die innen in Form eines weiteren Hufeisens um den Altarstein platziert wurden. Diese Menhire, von denen viele verschwunden sind, bestanden aus unterschiedlichen Gesteinsarten. Sie werden wegen ihrer Färbung aber alle „Blausteine“ genannt. Und ihr Ursprung wird in den Preseli-Bergen im Südwesten von Wales verortet; womöglich wurden auch Steine eines älteren Steinkreises in Wales zweitverwertet. Warum die Erbauer von Stonehenge Steine von dort herbeischafften, ist unklar – so wie der gesamte Zweck dieses Bauwerks bis heute Rätsel aufgibt. Von Wales aus jedenfalls wurden die jeweils bis zu vier Tonnen schweren Blöcke wohl mit Flößen oder, wie Forscher zuletzt argumentierten, mit Schlitten zu ihrem Bestimmungsort transportiert.
Den sogenannten Altarstein zählte man bislang zu diesen Blausteinen. Bereits 2023 aber wurden Zweifel an dieser Zuschreibung laut. Jetzt bestätigt das Team um Clarke: Mineralogisch gesehen kann der Altarstein schwerlich aus Wales stammen. Seine Zusammensetzung gleicht vielmehr derjenigen des Old-Red-Sandsteins im Nordosten Schottlands, was „wirklich schockierend“ sei, so der Mineraloge Robert Ixer vom University College London, der an der Studie beteiligt war. Der genaue Ursprungsort sei noch zu klären, ergänzte der Geowissenschaftler und Co-Autor Richard Bevins von der Aberystwyth University in Wales, laut einer Mitteilung seiner Universität. Aber man könne festhalten, „dass dieser ikonische Stein schottisch und nicht walisisch ist“.
Damit bleiben zwei offene Fragen: Wie konnten die Menschen mit ihrer damaligen Technik einen sechs Tonnen schweren Stein über die gesamte Insel bewegen? Und warum machten sie sich diese Mühe? Es sind Fragen, die sich archäologisch nicht eindeutig beantworten lassen. Selbst wann der Stein transportiert wurde, ist unklar; vermutlich sei er zwischen 2620 und 2480 vor Christus aufgerichtet worden, schreiben die Forscher um Clarke.
Und auch zum Transportweg äußern sie zumindest eine Vermutung. Auf dem Landweg hätten die Menschen nicht nur Flüsse überwinden müssen, sondern auch Hügel und dichte Wälder; das deute darauf hin, dass sie den Stein eher die Küste entlanggeschippert hätten, schreiben sie. Dass die Menschen dazu in der Lage gewesen wären, könne man etwa an der Wühlmaus sehen: Die erreichte bereits um 5000 vor Christus auf menschlichen Booten die Orkney-Inseln. Doch ob der Altarstein wirklich übers Wasser kam, ist offen. Und Stonehenge ist um ein weiteres Rätsel reicher.