Störfälle im Ausland:Die Kinder und Väter von Sellafield

Wissenschaftler aus Großbritannien, Frankreich und den USA erforschen seit Jahrzehnten das Risiko der Kernkraft - mit verblüffenden Ergebnissen.

Christopher Schrader

Beim Thema Kinder, Krebs und Kernkraft sind die Briten den Deutschen um Jahre voraus.

Englische Forscher untersuchen seit langem die Häufung von Leukämiefällen im Dorf Seascale nahe der britischen Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe in Sellafield. Dort waren zwischen 1954 und 2001 insgesamt 21 Kinder an Blutkrebs erkrankt.

Das Wissenschaftler-Gremium Comare, das die britische Regierung berät, fand auch in der Nähe anderer kerntechnischer Anlagen ähnliche Auffälligkeiten: um Dounreay in Schottland, wo ebenfalls Brennelemente verarbeitet wurden, sowie in Aldermaston in der Nähe von Reading, wo Atomwaffen gefertigt werden.

Besonders die Betreiber von Sellafield werden beschuldigt, aus ihrer Anlage sei immer wieder Radioaktivität entwichen. In Dounreay wiederum hatte es 1977 eine Explosion in einem Zwischenlager für Brennelemente gegeben.

Dennoch erklären auch die britischen Forscher, sie könnten keine konkreten Ursachen für die besondere Häufung der Krebsfälle rund um die Atomanlagen benennen.

Erfahrungen aus La Hague

Auch in der Nähe der französischen Wiederaufbereitungsanlage in La Hague am Ärmelkanal haben Forscher bei jenen Kindern eine erhöhte Leukämierate festgestellt, die weniger als zehn Kilometer von der Anlage entfernt wohnten.

Andere Wissenschaftler wollen erkannt haben, dass die Betroffenen und ihre Familien mehr Zeit am Strand verbracht und mehr Fisch und Meeresfrüchte gegessen hätten - die deutsche Strahlenschutz-Kommission hat diese Ergebnisse jedoch wegen methodischer Mängel zurückgewiesen.

Ähnliche medizinische Studien gibt es aus den USA, Kanada, Japan und Spanien. Wissenschaftler im amerikanischen Charleston haben sie vor kurzem zusammengefasst. Demnach könnte die Gefahr, an Leukämie zu erkranken, für Kinder bis zum Alter von neun Jahren in der Nähe von Nuklearanlagen um 21 bis 25 Prozent erhöht sein.

Ihr Risiko, daran zu sterben, ist um fünf bis sechs Prozent größer. Doch auch die Amerikaner stimmen in den Chor ihrer Kollegen aus anderen Ländern ein: Sie können nicht belegen, dass Radioaktivität etwas mit den Resultaten zu tun hat.

Besonders im Fall des britischen Sellafield ist immer wieder die Hypothese diskutiert worden, dass die Väter der betroffenen Kinder Angestellte der Nuklearanlage und somit erhöhten Strahlendosen ausgesetzt waren. Forscher haben sich aber schwer damit getan, diesen Zusammenhang zu belegen.

Der britische Comare-Bericht führt die Leukämie-Häufungen daher eher auf eine äußerst seltene und ungewöhnliche Reaktion der Kinder auf eine Infektion zurück - ohne genaueres sagen zu können.

Ihre Suche haben die Briten inzwischen auf das ganze Land ausgedehnt, damit gehen sie weiter als die anderen europäischen Staaten. Und das Ergebnis ist verblüffend: An mehreren Orten, und keinesfalls nur in der Nähe von Nuklearanlagen, treten Häufungen der Leukämie-Krankeit auf. Und nirgends gibt es klar ersichtliche Ursachen dafür.

Die Forscher haben 32.000 Krebsfälle bei Kindern analysiert, die zwischen 1969 und 1993 diagnostiziert wurden. Wer eine solche Datenmenge ohne klare Fragestellung untersucht, findet dabei fast immer eine statistische Verbindung. Den britischen Forschern erscheint es nun fast als wahrscheinlicher, dass Kinder in wohlhabenderen Gegenden Leukämie bekommen als solche aus der Nähe von Kernkraftwerken. Das letzte Wort darüber dürfte nicht gesprochen sein.

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