Das Delikt ist so alt wie die Steuererhebung selbst: Seit es diese Abgaben gibt, werden sie hinterzogen. Und ein neu entdeckter Papyrus zeigt: Römische Kaiser reagierten darauf nicht weniger empfindlich als ein modernes Finanzamt.
Das fragliche Schriftstück stammt aus der römischen Provinz Judäa, deren Gebiet etwa dem des heutigen Staates Israel entsprach. Gefunden wurde es schon vor rund 70 Jahren in der israelischen Wüste. Doch da es falsch zugeordnet wurde, schlummerte es lange im Magazin und wurde nicht weiter beachtet. Erst vor rund zehn Jahren fiel auf, dass es auf Griechisch geschrieben ist. Nun haben es die Althistorikerin Anna Dolganov von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und ihre Kollegen entschlüsselt.
Der Papyrus enthält Notizen für eine Gerichtsverhandlung um das Jahr 130 nach Christus. Vermutlich diente er als Hilfestellung für den Ankläger, denn er enthält zahlreiche Anweisungen, wie auf Argumente der Verteidiger am besten zu reagieren sei. Auf der Anklagebank saßen zwei Männer, ein Saulos und ein Gadalias. Der Vorwurf: Steuerhinterziehung durch Scheinverkäufe von Sklaven.

Schon die Entzifferung der dicht gedrängten griechischen Buchstaben sei eine Herausforderung gewesen, sagt Dolganov. Doch nicht weniger anspruchsvoll sei es gewesen, zu rekonstruieren, was damals geschehen ist. „Man muss sich wirklich in diesen Kriminalfall hineindenken. Wenn ich Steuerbetrug mit Sklavenhandel in der römischen Provinz begehen möchte, was müsste ich dafür tun? Auf welchem Wege wäre das profitabel?“
War Habgier das Motiv – oder ging es um einen Aufstand?
Die wahrscheinlichste Variante laut Dolganov: Saulos, ansässig in Judäa, verkaufte zum Schein über die Provinzgrenzen hinweg Sklaven an seinen Komplizen Chaereas im benachbarten Arabia. Tatsächlich aber behielt Saulos die Sklaven. Auf diese Weise verschwanden diese aus dem Blick der Behörden, da zwar in Judäa ihr Verkauf, in Arabia aber kein Kauf registriert wurde. Saulos könnte so sein Vermögen vor der Finanzverwaltung der Provinz versteckt haben, um Steuern zu sparen und sich vor den öffentlichen Aufgaben zu drücken, die wohlhabenden Männern auferlegt wurden.
Das sei zumindest die Perspektive der Ankläger gewesen, sagt Dolganov. „Natürlich kann es sein, dass sie recht hatten und das Motiv einfach Habgier war.“ Aber es sei auch ein anderer Hintergrund denkbar. So stammt der Papyrus aus den Jahren unmittelbar vor dem sogenannten Bar-Kochba-Aufstand, einer jüdischen Rebellion gegen Rom, nach deren Niederschlagung die Juden aus ihrem angestammten Land vertrieben wurden. Womöglich, meint Dolganov, hätten die Scheinkäufe von Sklaven demnach dazu gedient, versklavte Juden zu befreien. „Möglicherweise waren sie sogar Teil der Vorbereitungen für den Aufstand, der wenig später in der Provinz ausbrach. Wir wissen es nicht.“

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Die Gipsabdrücke wirken so lebensnah, dass lange offensichtlich schien, wer die Menschen einst waren. Gen-Analysen zeigen nun: Viele dieser Geschichten sind falsch.
Die Anklage zumindest wirft Gadalias zugleich Gewalttätigkeit, Aufruhr, Banditentum und Geldfälschung vor – ein Vorgehen wie aus dem Rhetorik-Lehrbuch, um das Misstrauen des römischen Richters zu erregen. „Man bekommt ein Gefühl dafür, was für eine angespannte Stimmung damals geherrscht haben muss und wie leicht man in Verdacht geriet, ein Aufrührer zu sein. Die Ankläger machten sich diese Stimmung gezielt zunutze“, sagt Dolganov.
Fest steht, dass die Männer einige kriminelle Energien aufwandten, um ihre Machenschaften zu vertuschen. Auch das geht aus der Anklageschrift hervor. Vermutlich wurden die Behörden bei der Freilassung eines Sklaven misstrauisch und begannen nachzuforschen. Denn auch Freilassungen wurden registriert, dazu mussten die passenden Dokumente vorgelegt werden. Und dies scheint nur mittels Fälschungen möglich gewesen zu sein. So enthält die Anklage einen weiteren Vorwurf: In einer Urkunde sei ein Ortsname ausgetauscht worden, mutmaßlich durch den Notar Gadalias, den Saulos bestochen habe. Warum die Männer das Risiko eingegangen sind, einen Sklaven ohne gültige Papiere freizulassen, bleibt indes ein Rätsel. Vielleicht waren religiöse Gründe ausschlaggebend.
Die möglichen Strafen auf Steuerhinterziehung waren hart
Doch auch jenseits des konkreten Falles ist der Papyrus ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte der römischen Provinzen. „Es ist wirklich faszinierend, wie weit die römische Verwaltung fortgeschritten war“, sagt Dolganov. „Wir sehen an diesem Fall, was man für einfache Rechtsgeschäfte alles beweisen und vorlegen musste.“ Und das in einer recht abgelegenen Gegend. „Wir sind hier im Hinterland einer Randprovinz im griechischen Osten, also wirklich im hintersten Winkel der römischen Welt. Und selbst hier beherrschen die lokalen Anwälte die juristischen Begrifflichkeiten und Gepflogenheiten, wie wir sie aus der Stadt Rom kennen – wenn auch übersetzt ins Griechische. Es ist unglaublich, wie homogen das Römische Reich in dieser Hinsicht war.“
Die meisten vergleichbaren Papyri stammen aus der Provinz Ägypten, von der oft behauptet wird, sie sei ein Sonderfall, aus dem kaum auf die Verhältnisse in anderen Provinzen geschlossen werden könne. Dolganov meint: „Mit diesem Papyrus kann man nun sagen, dass sich für die römischen Institutionen durchaus vieles, was wir aus Ägypten kennen, verallgemeinern lässt.“
Wie groß das Problem der Steuerhinterziehung in römischer Zeit insgesamt war, ist aufgrund fehlender Quellen schwer zu sagen. Aus Ägypten ist lediglich bekannt, dass viele Menschen aus ihren Dörfern flohen, um den Steuereintreibern zu entgehen. Komplexere Fälle wie der des Saulos sind hingegen kaum überliefert. Doch den Angeklagten drohten heftige Strafen: Auf Steuerbetrug standen Geldstrafen und die Konfiszierung von Besitz, auf Urkundenfälschung teils sogar Verbannung oder der Tod. Welches Urteil über Saulos und Gadalias gesprochen wurde, ist allerdings nicht bekannt. Es ist gut möglich, dass der Prozess wegen des Bar-Kochba-Aufstands abgebrochen wurde.
Anna Dolganov glaubt, dass der Papyrus den Blick auf das römische Gerichtswesen in den Provinzen verändern wird. Die Annahme vieler Rechtshistoriker, das römische Recht sei in den östlichen Provinzen nicht so gut verstanden und angewandt worden, lasse sich nicht länger halten. Und auch für sie persönlich ist die Veröffentlichung etwas Besonders: „Nur wenige Papyrologen bekommen in ihrer Karriere überhaupt die Chance, solch ein Dokument zu bearbeiten. Ich hatte unglaubliches Glück, dass es in meine Hände gelangt ist.“