Statik:Der an der Brücke lauscht

Brücke

Sie wirken, als seien sie für die Ewigkeit gebaut. In Wahrheit sind Stahlbetonbrücken sehr empfindlich.

(Foto: CC0)

Bauwerke aus Stahlbeton sind wesentlich empfindlicher als sie aussehen. Unterwegs mit einem Prüfer - und seinem Hämmerchen.

Von Christian Endt

Stahlbetonbrücken sind wie eine Schachtel Pralinen: Das Meiste ist nur Verpackung. Die vielen Tonnen Beton wirken zwar fest und stabil. Tatsächlich sind sie aber vor allem ein großzügiger Rostschutz. Was eine Brücke aufrecht- und zusammenhält, sind die Stahlseile, die im Inneren verlaufen.

Knapp 40 000 Brücken gibt es in Deutschland allein auf den Autobahnen und Bundesstraßen. Dazu kommen 25 000 Eisenbahnbrücken und unzählige Überführungen an Landstraßen, Ortsstraßen, Fußwegen. Millionen Fahrzeuge rollen jeden Tag über diese Bauwerke, Millionen Tonnen Güter schieben sich von einem Ende zum anderen. Die Kolosse aus Beton und Stahl wirken, als seien sie für die Ewigkeit gebaut. In Wahrheit sind sie aber sehr empfindlich. Brücken ächzen und stöhnen unter den Lasten, die über ihre Fahrbahnen donnern. Sie müssen regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung. Hauptprüfung heißt dieser Routinecheck in der Bautechnik, alle sechs Jahre ist er vorgeschrieben. Dazwischen gibt es Zwischenprüfungen und Sonderprüfungen, etwa nach einem Unfall oder einem schweren Sturm.

Um zu erfahren, wie es um die Brücke steht, müsste man eigentlich hineinbohren in den Beton, bis hinunter zum Stahl. Die ganze Verpackung abwickeln und nachschauen, ob der Stahl intakt ist oder vom Rost zerfressen. Aber dann wäre ein Loch in der Brücke. Die DIN-Norm 1076, "Ingenieurbauwerke im Zuge von Straßen und Wegen - Überwachung und Prüfung", schreibt eine "zerstörungsfreie Prüfung" vor. Deshalb gibt es den Hammer.

Beton ist gut darin, Druck auszuhalten. Mit Zugbelastung hat er hingegen Schwierigkeiten

Der Hammer ist das Stethoskop des Brückenprüfers, besser gesagt das Hämmerchen. Weil er ja nichts kaputt machen darf, braucht Michael Schlittenbauer kein großes Werkzeug. Mit seinem kleinen Hammer geht er um den tragenden Pfosten herum, der die Brücke mit dem Boden verbindet. Widerlager sagen Fachleute dazu. An diesem Widerlager geht Schlittenbauer langsam entlang und klopft mit sanften, federnden Schlägen auf den Beton. Er prüft Brücken nach Gehör, horcht in den Beton hinein wie ein Arzt in eine Lunge, um festzustellen, ob sich irgendwo eine Hohlstelle befindet. Ganz nutzlos ist der Beton natürlich nicht. Das Material aus Zement, Wasser und einer Füllmasse wie Sand oder Kies ist sogar ziemlich gut darin, Druck auszuhalten. Mit Zugbelastung kommt Beton allerdings nicht gut klar. Das ist seine Schwäche.

Eine Brücke biegt sich unter der Last von Autos und Lastwagen kaum merklich durch. Dabei wird der Beton an der Unterseite auseinandergezogen und droht zu reißen. Mitte des 19. Jahrhunderts erfanden Franzosen daher den Stahlbeton. Dabei werden die kritischen Stellen einer Betonkonstruktion mit eingebauten Stahlstreben verstärkt. Stahl hält ein Vielfaches mehr Zug aus als Beton.

Später haben Ingenieure das Prinzip weiterentwickelt: Aus Stahlbeton wurde Spannbeton. Eugène Freyssinet und Jean Séailles meldeten 1928 ein Verfahren zum Patent an, bei dem ein Teil der verbauten Stahlträger dauerhaft auf Zug gebracht und so das ganze Bauwerk leicht gebogen wird - und zwar entgegen der Richtung, in der bei Belastung Zugkräfte auftreten. So heben sich die beiden Kräfte weitgehend auf. Eine Brücke wird beim Bau also leicht nach oben gebogen, weil darüberfahrende Fahrzeuge nach unten drücken.

Heute hört Schlittenbauer nichts. Die Brücke, die einen kleinen Feldweg in der Oberpfalz auf 48,14 Meter Länge über die Bundesautobahn 93 führt, scheint in Ordnung zu sein. Schlittenbauer arbeitet als Bauingenieur beim TÜV Süd. Er prüft dort das ganze Jahr über Brücken und andere Verkehrsbauten wie Tunnel und Lärmschutzwände, meist im Auftrag von staatlichen Bauämtern und Autobahnmeistereien.

Kleine, kaum erkennbare Risse wachsen mit der Zeit zu einer großen Gefahr heran

Am Ende einer Hauptprüfung erhält jede Brücke eine Zustandsnote. Für die Bewertung spielt nicht nur die Statik eine Rolle, sondern etwa auch, ob das Geländer den Vorgaben entspricht. Nach einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen im vergangenen Jahr sind 13 Prozent der Brückenfläche in Deutschland in "nicht ausreichendem" oder "ungenügendem" Zustand. Zum Glück erkennen die Prüfer Mängel meistens früh genug und verhindern so größere Schäden.

Schlittenbauer holt einen schwarzen Plastikkübel aus dem Kofferraum seines Kombis. Darin liegt sein Werkzeug. Zwei bis drei Stunden braucht Schlittenbauer für eine kleine Brücke, eine Woche für eine große. Ein Maßband liegt im Eimer, ein Meterstab, ein kleiner und ein größerer Hammer, ein Schraubenzieher, ein Schraubenschlüssel, ein Ordner mit dem Prüfprotokoll. Außerdem zwei spezielle Messgeräte: Ein Abstandmessgerät, das schwache Ultraschall-Wellen aussendet. Und ein Schichtdickenmessgerät. Damit kann der Ingenieur feststellen, ob etwa die Schutzschicht auf dem Brückengeländer noch dick genug ist.

Ein wichtiges Werkzeug des Prüfingenieurs ist aber auch das Auge. Wenn Schlittenbauer den Beton abgeht - DIN 1076 schreibt vor, alle Teile "handnah" zu prüfen - sieht er auch kleinste Risse. Auch jene, die weniger als 0,2 Millimeter breit sind und die er daher gar nicht in seinen Bericht aufnehmen muss. Risse im Beton können gefährlich werden. Durch sie dringt Wasser in die Brücke. Im Winter gefriert es, dehnt sich aus und sprengt den Riss ein kleines Stück größer. Irgendwann erreicht das Wasser den Stahl, wodurch der zu rosten beginnt. Rostiger Stahl dehnt sich aus, braucht mehr Platz, den er sich im Beton auch sucht. So können größere Hohlstellen und Risse entstehen. Auch das in Streusalz enthaltene Chlorid greift den Stahl an, wenn es in den Beton eindringt.

Diese Dinge passieren schleichend. So wie sich schon Jahre vor einem Herzinfarkt Ablagerungen in den Blutgefäßen bilden, wächst ein kleiner, kaum erkennbarer Riss mit der Zeit zu einer Gefahr für die Brücke heran.

Der Computer vergibt am Ende die Note 2,5. Das steht aber nur für "ausreichender Zustand"

Geprüft wird aber nicht nur der Beton, sondern auch die Lager, auf denen der Überbau aufliegt. Sie sorgen dafür, dass eine Brücke flexibel ist und bei Bewegung auf der Fahrbahn mitschwingen kann. Bei der kleinen Brücke über die A93 sind Elastomer-Lager verbaut, flache Quader aus Kautschuk, im Inneren mit Stahlplatten verstärkt. An diesen Lagern lässt sich erkennen, wie eine Brücke, wie man so sagt, arbeitet. Man kann es mit den Augen sehen und mit dem Meterstab messen.

Wenn ein Fahrzeug über eine Brücke rollt, übt es nicht nur eine Kraft nach unten aus, sondern auch entgegen der Fahrtrichtung. Das ist wie bei einem Motorrad, das auf einer Gummimatte steht: Wenn man Gas gibt, rutscht die Matte nach hinten. Auf die Oberfläche unter einem Autoreifen wirken prinzipiell dieselben Schubkräfte. Sie werden von den Lagern abgefangen. Und sie hinterlassen Spuren an ihnen. Um die Elastomerlager unterhalb des Brückenbalkens zu untersuchen, zückt Schlittenbauer seinen Meterstab. Obere und untere Kante des Kautschukblocks sind zueinander verschoben. Maximal siebzig Prozent der Höhe des Lagers darf diese Verschiebung betragen. "Das haben wir hier bei weitem nicht", sagt er. Auch die Lager haben Schlittenbauers Prüfung also bestanden. Dann misst Schlittenbauer den Abstand zwischen den Streben des Geländers, zufällig irgendwo auf der Brücke: 13,5 Zentimeter. Höchstens zwölf Zentimeter dürften es sein. Mit einem dunkelblauen Druckbleistift notiert er den Missstand. "Ich glaube aber nicht, dass deswegen ein neues Geländer montiert wird", sagt der Prüfingenieur. Anders als bei Auto-Untersuchungen, wo der TÜV ein mangelhaftes Fahrzeug direkt aus dem Verkehr ziehen kann, gibt Schlittenbauer seinen Prüfbericht nur bei den zuständigen Behörden ab, versehen mit Empfehlungen. Was dann passiert, ob Schäden behoben werden oder die Brücke gar gesperrt wird, entscheiden die Beamten.

Eine weitere Vorschrift: Jeder Pfahl der Geländer muss unten ein Loch haben, damit Kondenswasser herausrinnen kann und das Eisen nicht von innen verrostet. Schlittenbauer schreitet also die 48 Meter auf beiden Seiten ab. Mit dem Schraubenzieher tastet er an jedem einzelnen Pfosten nach dem Loch. Und tatsächlich: Bei Nummer 13 fehlt der Wasserablauf.

Zuletzt gibt Schlittenbauer seine Daten in den Computer ein. Die Software rechnet alles zusammen und gibt der Autobahnbrücke in der Oberpfalz die Note 2,5. Das steht für einen "ausreichenden Zustand". Die Standsicherheit ist demnach nicht in Gefahr, auf Dauer könnten sich Schäden allerdings ausbreiten und verschlimmern. Ein Arzt würde wohl zu gesünderer Ernährung raten und zu mehr Sport.

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