Spuren zu den Ahnen:Die Wanderkarte im Erbgut

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Wissenschaftler wollen die Geschichte der Menschheit anhand der DNA von Ureinwohnern ausgewählter Regionen aufklären. Doch viele indigenen Völker fürchten das Projekt.

Hubertus Breuer

Es war Neugier, die im Juli 2006 die Athabascan-Indianer aus ihren Häusern am Kuskowkin-Fluss trieb. Manche unterbrachen die Jagd, Kinder kamen aus der Schule.

Nach einer Reise durch die Sahara trifft Spencer Wells in einem isolierten Dorf im Tschad ein. (Foto: Foto: David Evans/National Geographic Society)

Sie schwangen sich in ihre Boote, auf knatternde Geländemaschinen oder gingen zu Fuß durch den Nadelwald im Südwesten Alaskas.

In Georgetown, dem einzigen Dorf der Region, erwartete sie der Anthropologe Theodore Schurr in einer Holzhütte, die als Rathaus dient. Dort standen sie Schlange, um eine Speichelprobe abzugeben.

"Wir wollten wissen, woher wir kommen", sagt Glenn Fredericks, Häuptling des etwa hundert Mitglieder zählenden Stammes. "Die Legenden erzählen, wir hätten schon immer hier gelebt. Aber es heißt auch, dass wir aus Sibirien eingewandert sind."

"Wir wollten wissen, woher wir kommen"

Der Anthropologe Schurr von der Universität Pennsylvania ist derzeit im Auftrag einer Stiftung unterwegs, die eine moderne Form der Ahnenforschung betreibt: das Genographic Project, ein Zusammenschluss der amerikanischen Forschungsorganisation National Geographic und dem Computerkonzern IBM.

Die verschlungenen Wege der Menschheit sollen nachgezeichnet werden, von den Anfängen in Afrika bis in die letzten Winkel der Erde - "eine der grössten unerzählten Geschichte der Menschheit", schrieb das Magazin Science.

Abstammungsurkunden, Ahnenpässe und Kirchenbücher helfen da nicht weiter, womöglich jedoch die DNS.

"Unser Vorhaben ist vergleichbar mit dem Erstflug zum Mond", sagt Spencer Wells, der Leiter des Projekts. Was die Schwierigkeiten angeht, hat er bislang Recht behalten:

Anders als die Athabascan können sich viele indigene Gruppen dem Forscherdrang nicht anschließen. Im Gegenteil: Vor allem in Nordamerika und Australien verweigern sich viele Völker den Erbgutjägern. Die Boykotts gefährden mittlerweile das ehrgeizige Projekt.

In groben Zügen ist die prähistorische Wanderschaft der Menschheit bekannt. Vor etwa 60.000 Jahren zogen die Urahnen des modernen Menschen von Afrika in den Nahen Osten, schwärmten von dort nach Zentralasien, Europa und schließlich bis nach Australien und Amerika.

Doch viele Fragen sind offen: Welchen Weg genau nahmen die Jäger und Sammler von Afrika aus? Haben sich Neandertaler und Homo sapiens gepaart? Spielte die Seidenstrasse eine Rolle für Völkerwanderungen?

Einige dieser Rätsel lassen sich mit Hilfe von Ureinwohnern ausgewählter Regionen beantworten. Nur bei diesen kann man annehmen, dass der Wohnort seit tausenden, womöglich zehntausenden von Jahren der gleiche ist.

"Die Spuren zu den Ahnen verwischen"

Da sich auch die indigenen Völker zunehmend verstreuen oder mit anderen Ethnien vermischen, müssen die Erbgutdaten schnell gesammelt werden, sagt Projekt-Chef Wells: "Die Ahnen laufen nicht weg, aber die Spuren zu ihnen verwischen."

Das ist der Grund, weshalb Schurr in dem kleinen Rathaus mit Wattestäbchen den Speichel der Indianer sammelte, die Probe in ein Plastikröhrchen gab und, zurück in Philadelphia, schließlich untersuchte. Weltweit betreibt das Genographic Projekt derzeit zehn Labore. In den nächsten fünf Jahren sollen sie 100.000 Genproben von zweitausend indigenen Völkern sammeln.

Das globale Experiment vermag nicht nur Anthropologen zu erstaunen, sondern auch die Getesteten selbst. Lorianna Rawson aus dem Dorf South Naknek in Alaska zum Beispiel war von Schurrs vorläufigen Testergebnissen völlig überrascht.

Anders als bislang gedacht, stammt sie nicht von Athabascan-Indianern ab, sondern von deren ehemaligen Erzfeinden, den Yupik-Eskimos. Rawson sähe jetzt gerne ihren gesamten Clan getestet.

Es ist ein spezieller Teil des Erbguts, der Forscher in die Vergangenheit blicken lässt. Während der Großteil des Genoms von Generation zu Generation neu zusammengewürfelt wird, gibt es zwei Konstanten.

Einmal die mitochondriale DNS, Erbgutschnipsel außerhalb des Zellkerns. Sie wird nur von der Mutter weitergegeben. Das Y-Chromosom erhält jeder Sohn vom Vater. Mit diesen beiden Hinweisgebern lässt sich die Menschheitsuhr bis in die Vorgeschichte zurückdrehen. Man berechnet die Kopierfehler, die im Schnitt bei der Vererbung im Erbgut auftreten, und schließt auf die Verwandschaftsbeziehungen vor der jüngsten Eiszeit.

Die genetische "Eva" konnte auf einen Zeitpunkt vor etwa 150.000 Jahren bestimmt werden, und der Stammvater des modernen Y-Chromosoms hat seine Wurzeln im Zeitraum von 35.000 bis 89.000 Jahren.

Jeder Mensch trägt heute Merkmale dieser Ureltern in sich. Dabei gab es einst weitere Menschen, die ebenso Kinder zeugten. Doch Mütter haben mitunter nur Töchter, wodurch das väterliche Y-Chromosom verschwindet. Oder nur Söhne, die ihre mütterliche mitochondriale DNS nicht mehr vererben können.

Durch die Mutationen dieser beiden Urmerkmale kam es im Zuge der Völkerwanderungen zu dominanten Varianten - das sind nun die Hauptäste des menschlichen Stammbaums.

Mehr als 18.000 Proben hat das Genographic Projekt bereits zwischen dem Kaukasus und den Wäldern von Laos gesammelt.

Unter den Getesteten sind Mitglieder des nur noch 1500 Menschen zählenden Jäger- und Sammlervolks Hadzabe in Nordtansania, Mikronesier ebenso wie Bewohner der ostafrikanischen Insel Pemba.

Je nachdem, welche Variante eines Markers ein Mensch in sich trägt, lässt sich auf die Wanderschaft seiner Vorfahren schließen. Die Indianer Amerikas tragen ein Merkmal im Y-Chromosom, das sich in einer Variante unter den indigenen Völkern Sibiriens findet. Vermutlich stammen die Indianer von dort. Auf diesem Wege, sagt Wells, "lesen wir das Geschichtsbuch, das wir Menschen in uns tragen."

Vielerorts ist das Forschungsprogramm sehr beliebt. Schließlich wird der breiten Bevölkerung angeboten, anhand von Speichelproben die Wege der Urahnen nachzuvollziehen. Dem Projekt bringt das willkommene Aufmerksamkeit; die Hälfte des Profits kommt im übrigen Kultur- und Bildungsprojekten indigener Völker zu Gute.

Proben werden zurückgefordert

Doch nicht jeder Mensch will in den ersten Kapiteln seiner Vorgeschichte lesen.

Nur wenige Wochen nachdem Theodore Schurr die Speichelproben der Athabascan-Indianer gesammelt hatte, forderte das Kontrollgremium für Gesundheitsfragen indigener Völker in Anchorage die Proben zurück. Der Ausschuss will prüfen, ob bei der Datensammlung ethische Richtlinien verletzt wurden.

Widerstand kommt nicht nur von Behörden. In dem riesigen Gebiet Nordamerikas lehnen bis auf wenige Ausnahmen die eingeborenen Völker das Projekt rundweg ab.

Migrationsmuster auf der Grundlage von Y-Chromosomen- und mtDNA-Markern. (Foto: Grafik: National Geographic Maps)

Ähnlich sieht die Lage in Australien aus. "Wir klären die Völker genau über das auf, was wir tun. Die Teilnahme ist freiwillig", betont Spencer.

Doch manche Eingeborene treiben Ängste um, ihnen könnte der Anspruch auf ihr Land streitig gemacht werden; andere fürchten, aus ihren medizinischen Daten könnte ohne ihr Wissen Profit geschlagen werden, sagt Mic LaRoque vom dem Kontrollgremium in Alaska.

Der Argwohn liegt in der Geschichte der Kolonialisierung begründet. Für die Ureinwohner Australiens und die Indianer Amerikas ist sie geprägt von Krieg, Ausbeutung und Diskriminierung.

Ein typisches Beispiel ist der Seaconke Wampanoag-Stamm, der an der amerikanischen Nordostküste lebt und ebenfalls für das Genographic Project vorgesehen war.

Im Jahr 1676 metzelten europäische Einwanderer fast alle Wampanoag nieder - nachdem sie fünfzig Jahre zuvor mit den Indianern ein Erntedankfest gefeiert hatten, das zum Urahn für den heutigen US-Nationalfeiertag Thanksgiving wurde. Später stellten die Siedler zudem den abgeschlagenen Kopf des Häuptlings Metacomet auf einer Stange in der Stadt Plymouth zur Schau.

Aufruf zum Boykott

Längst hat sich der Widerstand auch institutionell formiert: Das "Indigenous People Council on Biocolonialism", IPCB, eine Organisation indigener Völker weltweit, rief im vergangenen Jahr zum Boykott gegen National Geographic und IBM auf.

Debra Harry, Direktorin des IPCB, wirft dem Projekt unter anderem vor, Repräsentanten der verschiedenen Völker bei der Planung nicht einbezogen zu haben. Im vergangenen Mai empfahl sogar das "Ständige Forum für Indigene Angelegenheiten" der Vereinten Nationen, das Projekt aufzugeben.

Zu alledem kommt, dass schon einmal ein solches Megaunternehmen schlecht endete. In den 1990er-Jahren beabsichtigte der kalifornische Populationsgenetiker Luigi Cavalli-Sforza, mit dem "Human Genome Diversity Project" Genproben von 722 Eingeborenenvölkern zu sammeln, um zu ergründen, wie es zur menschlichen Vielfalt kam. Blutproben der Urvölker sollten ihm dabei helfen.

Doch das Vorhaben bekam bald den wenig charmanten Namen "Vampirprojekt". Die Naturvölker fürchteten, dass Pharmakonzerne ihr Erbgut patentieren könnten, und stellten sich quer.

Mark Stoneking vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie gibt allerdings zu bedenken, dass auch schon ein Bruchteil der geplanten Genproben die Forschung weiterbringen kann.

Unerwartet gehört unterdessen auch der Stamm der Seaconke Wampanoag zu den wenigen Indianervölkern Amerikas, die am Genographic Projekt teilnehmen.

Ihr Chief Michael Markley erklärt den angesichts der belastenden Vergangenheit überraschenden Entschluss: "Das Wissen unserer Herkunft ging im Krieg von 1676 verloren. So gewinnen wir zu den 400 Jahren dokumentierter Geschichte womöglich wieder 40.000 Jahre hinzu."

Die Forscher vermuten, dass die Vorfahren der Seaconke vor rund 20.000 Jahren auf einer Landbrücke die Bering-Straße nach Amerika überschritten.

Doch zur wievielten Einwanderungswelle sie gehörten, auf welchem Weg und mit welchen Blutsbrüdern sie an die Ostküste gelangten, das können nur DNS-Analysen klären. "Mit ein wenig mehr Vertrauen," sagt Schurr, "wäre uns sehr geholfen."

© SZ vom 9.2.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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