Sprache:Die Ur-Grammatik

Isolierte Bevölkerungsgruppen liefern Linguisten Hinweise darauf, wie sich die menschliche Sprache entwickelt hat. Dazu müssen die Forscher auch schon mal in die Wüste.

Sebastian Herrmann

Eine Gruppe Beduinen brach vor 200 Jahren vom Staatsgebiet des heutigen Ägyptens Richtung Osten auf. Die Männer, Frauen und Kinder ließen die Halbinsel Sinai hinter sich und siedelten an einem abgeschiedenen Ort in der Wüste Negev.

Sprache: Die Menschen von Al-Sayyid kommunizieren in einer Gebärdensprache.

Die Menschen von Al-Sayyid kommunizieren in einer Gebärdensprache.

(Foto: Foto: Shai Davidi/Sign Language Research Lab/University of Haifa)

Heute liegt ihr Dorf Al-Sayyid im Staat Israel und die 3500 Menschen, die dort leben, sind zu einem wissenschaftlichen Glücksfall für Linguisten geworden: In der Wüste können Mark Aronoff von der amerikanischen Stony Brook University und seine Kollegin Wendy Sandler von der Universität Haifa beobachten, wie sich eine Sprache ohne jeden Bezug zu einer anderen neu entwickelt.

Das Idiom der Beduinen-Nachfahren baut auf keinem existierenden Sprachsystem auf und hat sich binnen weniger Jahrzehnte entwickelt. Die Menschen von Al-Sayyid kommunizieren in einer Gebärdensprache. Sie baut auf Zeichen auf, die vier gehörlose Geschwister vor etwa 75 Jahren erstmals gebraucht haben.

Lässt sich in der Wüste Negev die große Frage der Linguistik beantworten: Wie hat sich die erste Sprache entwickelt? "Wir können so eine Wissenslücke füllen, die wir anders niemals schließen könnten", sagte Sandler auf der Jahrestagung der amerikanischen Wissenschaftsvereinigung AAAS in Chicago, wo die Forscher ihre Ergebnisse vorstellten.

"Wie eine Sprache frei von äußeren Einflüssen neu entsteht, kann heute unmöglich beobachtet werden", sagt Aronoff. Dazu müsste unternommen werden, was Linguisten das verbotene Experiment nennen. Säuglinge müssten isoliert von jeglichem Kontakt zu sprechenden Erwachsenen in einer Gruppe aufwachsen.

"Auf einer Insel zum Beispiel", sagt Aronoff. Dann müssten die Forscher ihre Probanden sich selbst überlassen und beobachten. Nur so ließe sich erkunden, wie sich im Laufe mehrerer Generationen eine Sprache entwickelt. Eine solches Experiment aber ist undenkbar - so bieten junge Gebärdensprachen den einzigen Einblick in die Sprachentstehung.

Es gibt einige isolierte Dörfer und Gemeinschaften weltweit, in denen eigene Gebärdensprachen unabhängig entstanden sind wie in Al-Sayyid. Ungewöhnlich viele Menschen in dem Dorf in der Negevwüste sind von Geburt an taub. Etwa 150 der 3500 Bewohner können nicht hören. "Dafür können fast alle Bewohner des Dorfes die lokale Gebärdensprache", sagt Aronoff.

Die vier Geschwister, auf deren Gesten die Sprache fußt, bedienten sich noch sehr symbolischer Gesten. Ihre Kommunikation glich einer routinierten, schnellen Scharade. Auf dem AAAS-Treffen zeigte Sandler eine Video, in dem einer der vier Geschwister in hohem Alter eine Geschichte gebärdet. Es geht um ein Pferd, einen Kampf, eine Waffe, bei jedem Begriff bewegt sich der gesamte Körper des alten Mannes mit seinem Armen und Händen mit. Die Gesten erklären sich zum Teil von selbst.

Die Ur-Grammatik

Ähnliches zeigten Ann Senghas von der Columbia University und ihre Kollegin Marie Coppola in Filmen aus einer Gehörlosenschule in Nicaragua. Die Schule wurde in den 1970er Jahre errichtet, gelehrt wurde allerdings ausschließlich das Schriftspanisch. Eine etablierte Gebärdensprache gab es in dem Land nicht.

"Die Kinder haben sie selbst entwickelt", sagt Senghas. Die etwa 50 Ur-Sprecher sind heute um die 40 Jahre alt, während die mittlerweile dritte Generation Gebärdensprecher die Schule besucht - und die Sprache weiterentwickelt, die nun um die tauesend Menschen gebrauchen.

Die Ursprecher bedienten sich wie die vier Geschwister in der Negevwüste sehr symbolischer und ausladender Gesten. Die Bewegungen sind aber langsam, brauchen viel Raum, die Sprecher machen Pausen, um zu sehen, ob ihr Gesprächspartner alles verstanden hat.

Die Entwicklung der Sprachen in Mittelamerika und Israel verlief rasend schnell. "Bereits in der zweiten Generation wurden die Gesten beliebiger", sagt Sandler. Die Gesten entfernen sich in ihrem Aussehen von dem, was sie bedeuten: Der mit der Hand angedeutete, pickende Hühnerschnabel, der in der ersten Sprach-Generation in Al-Sayyid noch Teil der Geste für "Ei" war, wird ersetzt von Gesten, die abstrakte Formen andeuten. "Das gleiche gilt auch für gesprochene Sprachen", sagt Sandler.

Die Gesten der Gehörlosen in beiden untersuchten Gemeinschaften wurden mit der Zeit weniger ausladend und allmählich feiner. Gleichzeitig wurden die Körper der Sprecher ruhiger, arbeiteten nicht mehr so sehr mit. "Statt dessen gibt der Körper nun mit subtilen Gesten die Hierarchie von Wörtern in einem Satz vor", sagt Sandler.

Die Grammatik der Sprache entwickelt sich, Abläufe können nun schnell dargestellt, die Beziehungen von Subjekt und Objekt dargestellt werden. "Jeder Sprecher dieser jungen Sprachen hinterlässt seinen Fußabdruck in dem System", sagt Senghas.

Wie autark die Entwicklung der Gebärdensprache in Al-Sayyid passierte, zeigt sich auch an der grammatikalischen Distanz zur dort gesprochenen Sprache. Anders als noch vor einer Generation, lernen mittlerweile alle Kinder in den Dorf Lesen und Schreiben.

Doch die Grammatik der Schriftsprache hat bislang keine Spuren in der Gebärdensprache hinterlassen: Es wird stets erst das Subjekt, dann das Objekt und am Ende das Verb gestikuliert - die gesprochene Sprache des Dorfes hat einen ganz anderen Aufbau. "Eine Sprache entlehnt ihre Grammatik eben nicht von anderswoher", sagt Aronoff, "nur Vokabeln werden gerne übernommen." Das ließe sich für jede Sprache sagen.

Die Entwicklung der Gebärden in Israel und Nicaragua entspricht jenem Ablauf, den die Linguistik auch für die Entstehung gesprochener Sprachen annimmt.

Aus Lauten, die einst mit mimischen Gesten verbunden waren, formte der Mensch die ersten Wörter. Diese wurden schließlich abstrahiert, der Sinn entfernte sich von der lautmalerischen Symbolik. Eine einfache Wortstruktur entstand, die schließlich Sätze und die Entwicklung einer Grammatik ermöglichte.

Darüber immerhin müsse nun nicht mehr nur spekuliert werden, sagte Sandler, "was wir nun haben, ist wenigstens ein bisschen".

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