Das Nobelpreiskomitee blieb diese Woche konsequent - bei allen naturwissenschaftlichen Preisen zeichnete es nicht die vermeintlichen Favoriten aus. In der Medizin war die Auszeichnung für Krebsforschung erwartet worden, doch die Entdeckung der Zellentrümpelung triumphierte. Bei der Physik hatten viele mit den Gravitationswellen gerechnet, doch das Komitee entschied sich für das etwas weltfremde Gebiet der Topologie - womöglich kam die Entdeckung der Wellen zu spät für eine Nominierung. Und während in der Chemie mancher auf die Genschere Crispr/Cas gesetzt hatte, welche die Gentechnik revolutioniert hat, machten die etwas fantastisch anmutenden molekularen Maschinen das Rennen.
Geehrt werden dieses Jahr der Franzose Jean-Pierre Sauvage, der gebürtige Schotte Sir James Fraser Stoddart und der Niederländer Bernard Feringa für die Entwicklung und Konstruktion molekularer Maschinen. Solche Apparate, die 1000-mal kleiner sind als ein Haar und mit bloßem Auge nicht zu sehen, aber dennoch wichtige Funktionen erfüllen, gibt es in der Natur - zum Beispiel die Flagellen, die Bakterien vorantreiben. Die drei Nobelpreisträger haben nun jedoch im Labor fabrizierte Moleküle zusammengebaut, die wie eine kleine Maschine gezielt bestimmte Arbeiten verrichten können.
"Es ist doch faszinierend zu sehen, wie man Moleküle gezielt durch Raum und Zeit bewegen kann."
Laut Thorsten Bach vom Lehrstuhl für Organische Chemie an der Technischen Universität München war es an der Zeit, dass das Nobelpreiskomitee diese Arbeiten auszeichnete. "Es ist doch faszinierend zu sehen, wie man Moleküle gezielt durch Raum und Zeit bewegen kann." Bach arbeitet eng mit Feringa zusammen. Eigentlich hatte er für Donnerstag einen Termin mit dem Geehrten in München. "Ich habe ihm gestern noch im Scherz geschrieben, dass ich seinen Besuch natürlich auch erwarte, wenn der Anruf aus Stockholm kommt. Nun hat er den Anruf tatsächlich bekommen und ich habe volles Verständnis, wenn er seine Reispläne ändert."
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Der Nobelpreisträger für Medizin, Yoshinori Ohsumi, hat das "Selbstaufessen" erforscht. Dieser Prozess der Autophagie lässt Körperzellen sich selbst aufräumen. Wissenschaftler bringen ihn mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung.
"Alle drei Preisträger haben auf ihrem Forschungsfeld einen großen Beitrag geleistet", sagt auch Catherine Housecroft, Chemieprofessorin und Moleküldesignerin an der Universität Basel, die ebenfalls auf dem Gebiet arbeitet. Sie kennt Jean-Pierre Sauvage persönlich und schätzt ihn als sehr umgänglichen Kollegen.
"Molekulare Maschinen arbeiten unter vollkommen anderen Bedingungen als makroskopische"
Ein erster Durchbruch gelang Sauvage 1984 an der Louis Pasteur Universität in Straßburg. Er entwickelte zwei kreisförmige Kettenmoleküle, die ineinander verwoben waren und sich umeinander drehen konnten. Der Trick dabei ist, dass die beiden Moleküle rein mechanisch und nicht chemisch miteinander verbunden sind. Damit hatte der Chemiker die ersten Voraussetzungen für eine molekulare Maschine geschaffen.
Der nächste Schritt gelang James Fraser Stoddart, der auf einem abgelegenen Bauernhof ohne Elektrizität und Computer aufgewachsen ist. In seinem Labor an der Newcastle University konstruierte er eine Art molekularen Shuttle. Auch er nahm ein Ringmolekül und spann es um ein anderes Kettenmolekül, das ihm als molekulare Achse diente. Das Ringmolekül konnte er entlang dieser Achse hin- und herfahren lassen. Weitere Entwicklungen Stoddarts waren ein molekularer Aufzug und ein künstlicher Muskel.
Im Nanobereich, in dem die jetzt ausgezeichneten Wissenschaftler arbeiten, gibt es allerdings ein Problem: die ungerichteten, zufälligen Bewegungen der Moleküle. "Molekulare Maschinen arbeiten unter vollkommen anderen Bedingungen als makroskopische", sagt Friedrich Simmel von der Technischen Universität München, der selber an molekularen Maschinen aus DNA und anderen Biomolekülen arbeitet. "Sie werden durch die Brownsche Molekularbewegung beeinträchtigt." Simmel vergleicht das mit einem extrem schweren Hagelsturm, in dem die Mechanik funktionieren muss. Eine Maschine muss jedoch auch unter diesen Bedingungen eine gerichtete Bewegung ausführen, die sich steuern lässt.
Jean-Pierre Sauvage
Jean-Pierre Sauvage wurde 1944 in Paris geboren. Seine Doktorarbeit machte er an der Universität Straßburg. Ihm ist es gelungen, verschiedene Moleküle beweglich miteinander zu verbinden. Foto: AP
Sir Fraser Stoddart
Sir Fraser Stoddart, geboren 1942 in Edinburgh, promovierte 1966 an der Universität seiner Heimatstadt. Er ist Mitglied des Kuratoriums der Northwestern University in Evanston, USA. Foto: AFP
Bernard Feringa
Bernard Feringa kam 1951 in Barger-Compascuum in den Niederlanden zur Welt. Er promovierte 1978 an der Universität Groningen und ist dort heute Professor für organische Chemie. Foto: dpa
Diesen letzten Puzzlestein lieferte der Niederländer Bernard Feringa. Er konstruierte im Labor einen einfachen Motor aus zwei Molekülen, die er über eine drehbare chemische Bindung miteinander verknüpfte. Die beiden Moleküle funktionieren wie Rotorblätter, die sich durch UV-Licht in Bewegung setzen lassen. Feringa baute 2014 ein solches Molekül, das sich 12 Millionen mal pro Sekunde drehen konnte.
"Wir fühlen uns ein bisschen wie die Wright-Brothers"
"Die Möglichkeit, Moleküle zum Arbeiten zu bringen, hat viele potenzielle Anwendungen", sagt die Basler Chemikerin Caroline Housecroft. Laut Friedrich Simmel von der TU München müsse man sich dabei aber von der Vorstellung lösen, dass molekulare Maschinen ähnliche mechanische Arbeit verrichten sollen wie ihre großen Vorbilder. "Sie könnten stattdessen wie Computer funktionieren oder wie kleine Fabriken, die maßgeschneiderte Moleküle zusammensetzen." Denkbar sind auch Nanoroboter, die zum Beispiel Medikamente im Körper ausliefern, Kleinstkraftwerke, die Wärme in Energie umwandeln oder Mikrofabriken, die andere Biomoleküle zusammenbauen.
Doch alle diese Anwendungen sind noch weit entfernt. "Wir fühlen uns ein bisschen wie die Wright-Brothers", sagte Bernard Feringa am Mittwoch während einer telefonischen Pressekonferenz nach der Verkündigung der Preisträger. Die amerikanischen Erfinder hätten damals auch Apparate erfunden, von denen niemand wusste, wozu sie einmal gut sein könnten.