Phänomene der Wissenschaft:Ganz schön verdreht

Spiralen sind eine universelle Form im Wunderwerk der Natur. Einblicke in biologische Muster und mathematische Eleganz.

Von SZ-Autoren

Universum

Am Anfang war die Spirale

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(Foto: Universal Images Group via Getty)

Alles begann mit der Spirale. Nicht ganz am Anfang vielleicht, davor gab es nach aktueller Auffassung schließlich noch den Urknall, vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Aber schon einige Hundert Millionen Jahre später begannen Staub-, Gas- und Materiewolken zu verklumpen - und die ersten Galaxien entstanden. Zunächst waren es chaotische Gebilde, aber vor etwa elf Milliarden Jahren kam der folgenreiche Moment, in dem die Natur die Spirale erfand. Weil die inneren Sterne von Galaxien den Mittelpunkt aufgrund der Gesetze der Physik schneller umrunden als die äußeren, wird jede solche Struktur automatisch zu einer Spirale aufgewickelt. Noch nicht ganz geklärt ist, wie sich die vielen Milliarden Sterne in den Spiralarmen verdichten. Vermutlich handelt es sich um Dichtewellen, die sich durch die Galaxie bewegen wie der Stau: Vorne rasen die Autos wieder los, während die neuen hinten abbremsen. Jedenfalls ist der Prozess universell, Spiralgalaxien sind die häufigsten Galaxien im Universum. Dazu gehört auch die hier illustrierte Milchstraße. Das Prinzip Spirale taucht seither immer wieder auf. Im Bildband "Spirals and Vortices" des Springer-Verlags, aus dem einige der auf dieser Doppelseite gezeigten Bilder stammen, sind unzählige weitere Spiralen und Wirbel zu finden. Dazu gehören die spiralförmigen Gehäuse der Ammoniten, jene Kopffüßer, die vom Devon bis zur Kreidezeit über Hunderte Millionen Jahre die Meere bevölkerten und als Fossilien erhalten sind. In ihrem Fall war nicht die Physik, sondern die Evolution am Werk: Spiralformen können auch das Ergebnis eines Wachstumsprozesses sein. Oder sie entstehen durch die Corioliskraft, die Luftströme auf der Nordhalbkugel nach rechts, auf der Südhalbkugel nach links ablenkt und so Tiefs, Hochs und Wirbelstürme rotieren lässt. Und als der Mensch schließlich auftauchte, produzierte auch er bald Spiralen in seinen Kultstätten und Gebäuden. So beginnt man bald überall Spiralen zu sehen, wenn man sich mit dieser Form beschäftigt. Was sind schon die elliptischen Bahnen der Planeten oder die eckigen Formen unserer Häuser? Im Grunde leben wir in einer Welt der Spiralen.

Technikgeschichte

Hebewerk aus der Antike

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(Foto: N/A)

Der Universalgelehrte Archimedes verfasste vermutlich bereits vor mehr als 2200 Jahren eine Abhandlung über Spiralen. Darin beschrieb er die nach ihm benannte "Archimedische Spirale", die einfachste unter den Schneckenlinien. Lebensnahe Beispiele dafür sind bis heute Lakritzschnecken und - die Älteren erinnern sich vielleicht - Schallplatten. Nicht verwechseln sollte man die "Archimedische Spirale" mit der "Archimedischen Schraube". Diese überzeugt nicht unbedingt durch mathematische Schönheit, sondern eher mit praktischem Nutzen. Sie besteht aus einer Steigwendel in einer geneigten Röhre und einem Reservoir. Dreht man die Spirale in die korrekte Richtung, nimmt sie am unteren Ende Wasser auf und befördert es bei stetem Weiterdrehen ans obere Ende der Steigwendel. Heute werden solche Hebeanlagen etwas irreführend auch als Schneckenpumpen oder passender als Schraubenförderer bezeichnet - und vor allem für Schüttgut verwendet. Auch Schneefräsen nutzen das Funktionsprinzip. Weil sie recht zuverlässig funktionieren und selten verstopfen oder blockieren, werden sie zudem gern zur Beförderung von Abwasser oder Granulat eingesetzt. Dass Archimedes tatsächlich den Schraubenförderer in seiner ursprünglichen Gestalt erfunden hat, ist höchstwahrscheinlich eine Legende. Vermutlich hat er die Idee bei Ingenieuren im Ausland abgeschaut. Auch hat er nicht die nach ihm benannte Spirale entdeckt, denn diese war vor seiner Abhandlung bekannt. Dass die heutige Menschheit Archimedes all diese Erfindungen zuschreibt, hat wohl mit den sonstigen Leistungen des Jahrtausenddenkers zu tun.

Sport

Die Körper unter Hochspannung

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(Foto: Henrik Sorensen/Getty)

Um einen Diskus so weit wie möglich zu schleudern, verbiegen sich Sportler zu einer Art gespannten Spirale. Anderthalb Mal rotieren die Werfer um die eigene Körperachse, bis sie das Sportgerät vom gestreckten Arm aus wegschleudern - hoffentlich zu einem neuen Rekord. Weil der Athlet die Abwurfzone - einen Kreis mit 2,5 Metern Durchmesser - nicht verlassen darf, bleibt ihm zur Beschleunigung nur die Verdrehung des Körpers. Ein Teil der Herausforderung ist es, sich nicht selbst mit der Wurfscheibe aus der Abwurfzone herauszuschleudern. Jedes Übertreten macht den Wurf ungültig. Bereits während der Spiele in Olympia vor mehr als 2000 Jahren sollen Athleten eine flache Scheibe aus mehreren Drehungen heraus abgeworfen haben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Wurftechnik der heutigen bereits sehr ähnlich. Die Erfindung der Verspiralisierung des gesamten Körpers als Weiterentwicklung der Wurftechnik wird dem Leichtathlet František Janda-Suk zugeschrieben, der damit erstmals bei den olympischen Spielen 1900 in Paris antrat. Er soll angeblich beim Studieren der berühmten Skulptur des Diskuswerfers von Myron auf die Idee gekommen sein. Im 20. Jahrhundert schließlich flogen die Scheiben deutlich weiter als je zuvor. 1912 reichten noch 47,58 Meter zum Weltrekord, 1976 überflog erstmals ein von einem Mann geschleuderter Zwei-Kilo-Diskus die 70-Meter-Marke. Einer Frau war dies übrigens bereits im Jahr zuvor gelungen.

Musik

Der Sound des Universums

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(Foto: Niels Poulsen/mauritius)

Ohne Spiralen wäre es schwer, eine Tuba zu blasen - das Instrument wäre geradegebogen mehr als fünf Meter lang. Spiralen sind auch bei der Trompete, der Posaune oder dem Horn formgebend. Für den Klang sind die Biegungen zwar eher nebensächlich, nicht aber unbedingt für den Wert eines Instruments. So lässt sich an der spiralförmigen "Schnecke" an der Spitze einer Geige ablesen, wie geschickt der Geigenbauer gearbeitet hat. An der Frage, ob sich eine Spirale auch akustisch darstellen lässt, hat sich der US- Komponist George Crumb versucht, dessen Stück "Spiral Galaxy" zum Leidwesen der Musiker in Form einer Spirale notiert ist. Die Rockband Nine Inch Nails huldigt der Form auf dem Konzeptalbum "The Downward Spiral", das die Selbstzerstörung eines Mannes bis zum Suizid beschreibt. Auch rhythmisch und melodisch lassen sich in einigen Stücken des Albums Spiralen heraushören: Die Musiker führen etwa ein Thema im Kreis, und intensivieren es zugleich durch andere Geräusche oder auch absteigende Tonhöhen, was die zunehmende Enge der Spirale aufgreift. Für solche akustischen Experimente gibt es Vorbilder in der Natur, etwa die Galaxie NGC 2207. Bilder dieses 80 Millionen Lichtjahre entfernten Sternhaufens zeigen Spiralen, die Astronomen als Schallwellen deuten. Der Krach wird vermutlich von Supernovae erzeugt. Von außen nach innen wird es in der Galaxie immer lauter, bis ein markerschütternder Bass 56 Oktaven unter dem mittleren C die Planeten wackeln lässt.

Architektur

Treppe zum Himmel

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(Foto: imago)

Das Spiralminarett von Samarra zählt zu den eindrücklichsten Beispielen der Architekturgeschichte. Der abbasidische Kalif al-Mutawakkil ließ es im 9. Jahrhundert auf die einst größte Moschee in der islamischen Welt nördlich von Bagdad bauen. Heute stehen zwar nur noch die Außenmauern der Moschee, dafür führt die spiralförmige Außentreppe immer noch über 50 Meter nach oben. Von hier aus hatte der Muezzin einen großzügigen Überblick. Doch war es auch der ideale Platz, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen? Vermutlich nicht, denn als der Abbasidenkalif Ahmad ibn Tulun einige Jahre später ein Spiralminarett auf die Ibn-Tulun-Moschee in der ägyptischen Hauptstadt Kairo bauen ließ, begnügte er sich mit weniger Höhe, was übrigens bis heute zu sehen ist. Das Spiralminarett, auf Arabisch "Malwiyya", ist damit ein gutes Beispiel, wie früh Wendeltreppen in der Architektur zu finden sind. Im Christentum assoziierte man den Spiralbau lange Zeit mit dem Turm zu Babel, im Alten Testament waren sie Sinnbild für den Übermut der Menschen, die einen Turm zum Himmel bauen wollten. Doch das ehrgeizige Bauprojekt scheiterte, denn eine von Gott initiierte Sprachverwirrung machte eine Verständigung zwischen den Arbeitern unmöglich. Heute steht der wohl bekannteste zeitgenössische Spiralbau an der Upper East Side in New York, das Solomon R. Guggenheim Museum, entworfen vom berühmten Architekten Frank Lloyd Wright. Bereits der Entwurf rief Kritik hervor. So würde die Architektur des Museums den Bildern im Museum die Schau stehlen. Ähnlich argumentieren mitunter auch ultrakonservative Wahhabiten. Extravagante Kuppeln oder Minarette würden vom reinen Glauben nur ablenken.

Biologie

Die fünfte Hand am dünnen Ast

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(Foto: Matthijs Kuij/mauritius)

Wenn es um Spiralformen in der Tierwelt geht, kommen wohl zuerst Muscheln, Austernschalen oder das gewundene Haus einer Weinbergschnecke in den Sinn. Tatsächlich aber sind Spiralen in der Fauna viel verbreiteter, zum Beispiel der zusammengekugelte Tausendfüßer, der eingerollte Saugrüssel eines Schmetterlings oder der Schwanz eines Chamäleons. Je nach Tierart erfüllt die spiralförmige Struktur unterschiedliche Funktionen: Der Tausendfüßer rollt sich bei Gefahr zusammen, um seinen empfindlichen Bauch zu schützen. Manche Arten bilden eine perfekt geschlossene Kugel, die unweigerlich an ein Schneckenhaus erinnert. Bei Schmetterlingen hingegen ist der Saugrüssel spiralförmig gebogen. Dieser dient der Nahrungsaufnahme und erreicht im ausgestreckten Zustand eine beachtliche Länge. Wird er nicht benötigt, rollt der Schmetterling den Rüssel platzsparend und eben spiralförmig unter dem Kopf zusammen. Das Chamäleon wiederum weist am Schwanzende eine wohlgeformte Spirale auf, die allerdings nur dann zu sehen ist, wenn es schläft oder träge auf einem Ast ruht. Sobald sich das Chamäleon bewegt, rollt es den Schwanz aus und gewinnt damit eine "fünfte Hand". Zusammen mit seinen anderen vier Gliedmaßen, die Greifzangen ähneln, wird die Echse so zur geschickten Kletterin. Dass man ein Chamäleon manchmal trotzdem von einem Baum stürzen sieht, hat einen anderen Grund: Bei Gefahr lassen sich die Tiere fallen und stellen sich tot.

Medizin

Kringelzungen und Ohrenschnecken

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(Foto: Wikimedia common /Martanopue/CC BY-SA 3.0)

Auch der menschliche Körper, bekannt für allerlei sonderbare Formen, nutzt die Spirale als Form, und das gleich mehrfach. So ist die sogenannte lingua geographica, auch Landkartenzunge genannt, eine schmerzlose Veränderung der Zungenoberfläche, die an das Relief einer Landkarte erinnert. Diese Formen können mitunter auch spiralförmig auftreten, wie auf dem Bild zu sehen ist. Die genaue Ursache ist unbekannt, vermutlich löst ein Entzündungsprozess die Abstoßung des Epithels aus. Das Phänomen tritt etwas häufiger bei Frauen und Kindern auf. Eine Therapie gibt es nicht - außer die klassischen Ratschläge, die immer gelten, wenn sich der Körper mit einer Entzündung meldet: Ruhe, Schlaf, gute Ernährung mit weniger Zucker, Fett und scharfen Gewürzen, wenig Stress. All das kann helfen. Doch nicht nur krankhafte Veränderungen im Körper treten in Form von Spiralen auf, auch die normale Anatomie des Menschen kennt diese Form: Die Hörschnecke im Innenohr ist wohl das beste Beispiel dafür. Mit ihren zweieinhalb Windungen ist sie essenziell für die Übertragung von Schallwellen in einen Nervenimpuls. Das passiert über Haarzellen in den Gängen der Schnecke, die den Schall aufnehmen und in elektrische Signale übersetzen. Wie wichtig die spiralförmige Struktur für das Hören ist, lässt sich an der Mondini-Dysplasie studieren: Diesen Patienten fehlt oft eine ganze Windung der Hörschnecke - die Folge sind Schwerhörigkeit bis zur vollständigen Taubheit.

Alltag

Turbulenzen durch Schwergewichte

Wie gefährlich eine Spirale werden kann, zeigt sich immer wieder am Himmel. Zum Beispiel im Frühjahr 2017, als ein deutscher Privatjet des Modells Challenger 604 nach etwa zwei Stunden Reisezeit in die Nachbarschaft eines Riesenfliegers kam - eines Airbus A380. Diese Großraummaschine wiegt etwa 500 Tonnen und ist damit fast 25-mal so schwer wie das Kleinflugzeug. Beide Flugzeuge hielten sogar den Mindestabstand von etwa 300 Meter ein, doch der kleine Privatflieger wird kurz nach der Begegnung heftig durch die Luft gewirbelt, die Piloten verlieren für kurze Zeit die Kontrolle über ihr Flugzeug. Schuld hierfür waren wahrscheinlich die spiralförmigen, sogenannten Wirbelschleppen. Sie wären den Insassen der Kleinmaschine beinahe zum tödlichen Verhängnis geworden, ein Absturz stand kurz bevor. Was war passiert? Luftfahrtexperten untersuchten den Fall und kamen zu dem Schluss: Der Airbus, mit einer Flügelspannweite von 80 Metern immerhin das größte zivile Flugzeug der Welt, hat für jene extreme Luftverwirbelungen gesorgt, die den Privatjet unvermittelt getroffen haben. Diese spiralförmigen Verwirbelungen der Luftmassen hinterlässt im Prinzip jedes Flugzeug. Die Tragflächen eines Fliegers erzeugen Auftrieb. An den Flügelspitzen passiert das nicht. Sie drehen die Luft zu einem Kreisel, ähnlich wie ein Rührstab im Kuchenteig. Fliegt ein vergleichsweise leichtes Flugzeug zu nahe an eine schwere Maschine heran, kann es also passieren, dass die Wirbelschleppen es wie eine Feder durch die Luft pusten. Man kann sich dieses Phänomen wie einen Wasserstrudel vorstellen. Heute weiß man, welche Gefahr von Wirbelschleppen im Luftraum ausgehen. Zahlreiche Beinaheabstürze sind vermutlich auf diese Form der Spiralen zurückzuführen. Was hilft, sind üppige Sicherheitsabstände, denn die Schleppen verlieren nach und nach an Kraft, so wie ein Wirbelsturm, der über Land zieht. Diese Lösung klingt trivial, doch ist sie in einer boomenden Luftverkehrsbranche ein großes Ärgernis. Enge Taktungen bei Starts und Landungen sind nötig, um die große Zahl an Passagieren zu bewältigen. Jede Minute, die ein Flieger am Boden wartet, ist für Airlines verlorenes Geld. Wirbelschleppe hin oder her.

Mathematik

Das Geheimnis der Goldenen Spirale

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(Foto: Zmicier Kavab/mauritius)

Mathematisch ist eine Spirale eine Kurve, die sich um einen zentralen Punkt windet, während sich der Radius stetig vergrößert (oder verkleinert). Logarithmisch nennt man jene Spiralen, bei denen sich der Abstand zum Mittelpunkt mit jeder Umdrehung um den gleichen Faktor ändert. Grafisch dargestellt wirken logarithmische Spiralen besonders elegant. Ein faszinierender Spezialfall der logarithmischen Spirale ist die Goldene Spirale, bei der sich die Bogenabschnitte in Harmonie mit den Proportionen des Goldenen Schnitts verändern. Leider jedoch lässt sich eine Goldene Spirale nicht ohne Weiteres mit Zirkel und Lineal konstruieren, daher nähert man sich anhand einer berühmten Zahlenreihe an - den Fibonacci-Zahlen, bei denen sich die jeweils nächste Zahl aus der Summe der beiden Vorgängerinnen ergibt: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 ... Verwendet man diese Zahlen, so lassen sich Quadrate mit den entsprechenden Seitenlängen elegant ineinander schachteln. Zeichnet man in jedes der Quadrate einen Viertelkreis, dessen Radius der Seitenlänge der Quadrate entspricht, erhält man eine Spirale, die sich wie eine Nautilusschnecke windet (siehe Grafik). In der Natur gibt es viele Formen, die sich an das Konstruktionsprinzip der Fibonacci-Spirale anlehnen. Das liegt oft daran, dass eine Pflanze oder ein Tier im Laufe des Wachstums neue Elemente - Blätter, Schuppen oder Panzerung - dem bestehenden Organismus hinzufügt, und zwar nicht linear, sondern spiralförmig. Ein schönes Beispiel ist die Sonnenblume, über deren Kerne im Blütenkorb sich nicht nur Vögel und andere Knabberer freuen. Mathematiker sind fasziniert, denn in der Geometrie der Kerne finden sie Dutzende Fibonacci-Spiralen.

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