Kampf der Nestbesetzer:Geier gegen Geier

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Beim Streit um Aas setzen sich Mönchsgeier (rechts) meist gegen Gänsegeier durch. Seltsamerweise geben die schwarzen Greifvögel aber sonst schnell klein bei. (Foto: mauritius images)

In einem spanischen Naturpark treiben sich Greifvögel an den Rand des Aussterbens. Die aggressiven Gänsegeier besetzen neuerdings sogar die Nester ihrer größeren Verwandten.

Reportage von Thomas Urban

Majestätisch gleitet der große Vogel mit weit ausgebreiteten Schwingen um den Felsen. Die Menschen am Aussichtspunkt im spanischen Naturpark Monfragüe sind begeistert: "Ein Adler! Ein Kaiseradler!" Dann kommt noch ein Vogel, dann werden es immer mehr. Schließlich kreist ein Schwarm von zwei Dutzend über den Felsen am Ufer des Tajos, des längsten Flusses der Iberischen Halbinsel. Doch dann erklärt der Führer, dass Adler nie im Schwarm auftreten, sondern bestenfalls paarweise; eigentlich seien sie Einzelflieger. Die elegant im Schwarm kreisenden Vögel, die die Zuschauer in ihren Bann ziehen, sind Gänsegeier, eigentlich übel beleumundete Gesellen, denen man eher nicht das Etikett majestätisch zugestehen würde.

"Ihre schlechte Reputation haben sie keineswegs verdient", meint Casto Iglesias. Er leitet die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Naturparks in der spanischen Region Extremadura, die auch Materialien für Schulen ausarbeitet und das ökologische Bewusstsein der Schüler durch Ausflüge in die Natur schärfen will. Seit vielen Jahren befasst er sich mit den Geiern, er nimmt an Kongressen teil und tauscht sich mit Ornithologen in anderen Ländern aus. Nach seinen langjährigen Beobachtungen konnte er nun mit einer Neuigkeit aufwarten, die der Fachwelt noch nicht bekannt war: Bei den Geiern gibt es Nestbesetzer. Sie machen sich in vorübergehend verlassenen Nestern breit und vertreiben deren Erbauer, wenn diese zurückkommen.

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Die Mönchsgeier haben zwei Feinde: ihre Verwandten und den Menschen

Die Rolle der Geier, die weit über die Grenzen des Parks hinaus in die umgebende dünn besiedelte Region fliegen, ist nach Ansicht von Iglesias nicht zu unterschätzen. Als Aasfresser sorgen sie dafür, dass von verendeten Tieren keine Seuchen ausgehen. "Die zersiedelte Landschaft hat das Gleichgewicht der Natur aus dem Lot gebracht", erklärt er. Da die meisten großen Tiere keine natürlichen Feinde mehr hätten, könnten sich auch Seuchen schneller ausbreiten, begünstigt noch durch die Massenhaltung von Haustieren, deren Kontakt zu wild lebenden Tieren nie völlig unterbunden werden kann.

Zwei Geierarten leben im Monfragüe-Park: Die Gänsegeierkolonie zählt rund 600 reproduktionsfähige Paare. Die Spezies ist in ganz Südeuropa und Mittelasien bis Nordindien verbreitet. Der Gesamtbestand ist zwar in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen, aber noch ist die Art nicht bedroht. Hingegen rechnet Iglesias damit, dass die andere Art in seinem Park, der Mönchsgeier, in naher Zukunft auf die Rote Liste der bedrohten Tierarten kommen wird. Am Mittellauf des Tajos im Norden der abgelegenen Region Extremadura leben rund 300 Paare. Es ist die größte Kolonie in Europa; auf Mallorca, in Südfrankreich und in Griechenland gibt es noch mehrere Dutzend Paare. Die Südeuropäer nennen ihn "schwarzer Geier", obwohl die Oberseite seiner Flügel braun ist. Er ist der größte Vogel in Europa, er wird bis zu 14 Kilogramm schwer und übertrifft mit einer Spannweite von drei Metern deutlich den auch viel leichteren Kaiseradler.

Dass es der einen Geierart vergleichsweise gut geht, während die andere deutlich unter dem Vordringen der Zivilisation in die Natur leidet, ist auf die Art ihres Nestbaus zurückzuführen: Die Gänsegeier brüten hoch oben auf den Felsen, weder von Raubtieren, noch von Menschen erreichbar.

Ganz anders verhält es sich mit den Mönchsgeiern, ihren Namen haben sie hochstehenden Federn am Kopf zu verdanken, die an die Kapuze einer Mönchskutte erinnern: Sie brüten in Baumkronen mitten im Wald, aber nicht in Kolonien, sondern nur paarweise. Dadurch sind sie doppeltem Alltagsstress ausgesetzt: durch Menschen - und durch Gänsegeier. Letztere sind es nämlich, die sich im Monfragüe-Park immer öfter als freche Nestbesetzer zeigen. Es gelingt ihnen zu Beginn ihrer Brutzeit im Dezember, weil die Nester der Mönchsgeier dann unbewohnt sind. Diese beginnen nämlich erst Ende Januar oder Anfang Februar zu brüten.

Casto Iglesias hat beobachtet, dass die Verdrängten nicht um ihre Nester kämpfen, obwohl sie größer als die Gänsegeier sind. Eher weichen sie harten Kämpfen aus. Dabei sind sie die dominanten Vögel, wenn Aas entdeckt wird: die kleineren Gänsegeier lassen ihnen den Vortritt. Wenn der Hunger zu stark ist, jagen beide Arten auch lebende Tiere: Kaninchen, Eidechsen, auch Katzen verschmähen sie nicht.

Der Mönchsgeier zieht sich sogar vor Störchen zurück, die gelegentlich ebenfalls zu Nestbesetzern werden. Zwar bringen diese nur ein Drittel seines Gewichts auf die Waage, aber sie attackieren jeden heftig, der sich ihrem Nest nähert. Den offenbar jedem Krawall abgeneigten Mönchsgeiern bleibt nichts anders übrig, als sich aus Zweigen und Reisig eine neue Brutstätte zu bauen. Es ist viel Arbeit, die Nester haben einen Durchmesser von bis zu drei Metern.

Der Kampf um die Nester ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass die Kolonie der Gänsegeier immer größer geworden ist und ihr nicht genügend geschützte Nistplätze in den Felsen zur Verfügung stehen. Ihre Expansion führt dazu, dass viele der seltenen und scheuen Mönchsgeier an den Rand des Monfragüe-Parks gedrängt werden, wo sie dann der Mensch stört. Denn in den benachbarten Wäldern werden Bäume gefällt, Motorsägen und Transportfahrzeuge kommen zum Einsatz.

Anders als Adler, Habichte und Falken lassen sich die Aasfresser nicht domestizieren

Diese Stressfaktoren führen dazu, dass die Zahl der Mönchsgeier nicht wächst. Sie brüten nur einmal im Jahr, neun Monate lang sind sie mit Brut und Aufzucht des Nachwuchses beschäftigt, bis dieser flügge wird. Die Wildhüter haben schon aus dem Nest gefallene Junge gerettet. Sie wurden in die Tierstation des Parks in der Bezirksstadt Cáceres gebracht.

Im Gegensatz zu Adlern, Habichten und Falken ist es aber bislang noch nicht gelungen, einen Geier zu domestizieren. Casto Iglesias berichtet, dass manche der Vögel sich aber durchaus auf die Zivilisation einstellen können: Die Tiere behalten beispielsweise die Fahrzeuge des Naturparks im Auge, die nach Wildunfällen Tierkadaver einsammeln. Sobald ein Wagen losfährt, fliegen sie in Richtung der Strecke, in der es die meisten Wildunfälle gibt und treffen dort vor den Menschen ein. Diese überlassen ihnen erst einmal das Aas, bis sie sich sattgefressen haben. Immer wieder erstaunt es die Beobachter, wie schnell ein ganzer Schwarm zur Stelle ist. Keiner weiß, wie die Geier diese Information so schnell untereinander austauschen.

Ebenso wenig ist klar, warum sich die Gänsegeier immer weiter nach Mitteleuropa ausbreiten, in Deutschland wurden bereits mehrere Schwärme gesichtet, die wohl ursprünglich aus Spanien gekommen sind; doch geblieben sind sie nicht. Ob dies eine Folge des Klimawandels ist oder des Verdrängungswettbewerbs um die Nester oder von beidem, darüber herrscht noch keine Einigkeit. Im Monfragüe-Park jedenfalls liebt man die Geier, weil sie beim Schweben diese majestätische Gelassenheit ausstrahlen. Es sei ungerecht, so meint es der Führer, sie auf ihre Fressgewohnheiten zu reduzieren: "Auch wenn der Löwe frisst, sieht das nicht appetitlich aus. Und dennoch wird er als König der Tiere verehrt."

© SZ vom 12.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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