Süddeutsche Zeitung

Spaceshuttle "Atlantis":Der letzte Ritt

Die Raumfähre "Atlantis" soll an diesem Freitag zum letzten Mal in den Weltraum starten - damit geht die Ära der Spaceshuttles zu Ende. Ausgerechnet dieser Flug ist ungewöhnlich riskant.

Alexander Stirn

Fast hätte die seit 20 Jahren zwischen Erde und Orbit pendelnde Raumfähre Atlantis ihre Dienstzeit unrühmlich beendet - als unbenutztes Rettungsboot. Während des finalen Fluges der Endeavour im vergangenen Mai stand die Atlantis am Boden bereit, um dem Schwesterschiff im Notfall hinterherzufliegen und deren Crew aus dem Orbit zurück auf die Erde zu bringen.

Doch die Endeavour flog fehlerfrei, und die Atlantis wurde nicht gebraucht. Für weitere Flüge fehlte eigentlich das Budget. Weil sie aber ohnehin in Cape Canaveral herumstand, und weil sich dann doch noch Geld auftreiben ließ, soll nun doch die Atlantis an diesem Freitag um 17.26 Uhr deutscher Zeit zum letzten Flug eines Spaceshuttles abheben. Sogar eine konkrete Aufgabe fanden die Mission Manager der US-Raumfahrtbehörde Nasa: Die Atlantis wird letzte Teile für den Aufbau der Internationalen Raumstation ISS in den Orbit bringen.

Dabei ist nicht nur der Starttermin aufgrund der Wetterlage noch fraglich. Es wird auch ein außergewöhnlich riskanter Flug. Anders als bei vorangegangenen Shuttle-Missionen steht im Notfall keine Rettungsfähre mehr bereit. Gibt es Probleme im All, müsste die Atlantis-Crew auf der ISS Zuflucht suchen und zusehen, wie sie von dort zurück zur Erde kommt. Einen langwierigen und komplizierten Notfallplan hat die Nasa für diesen Fall entwickelt. Gleichzeitig hat sie versucht, das Risiko zu minimieren, oder es - wo nichts zu minimieren war - zumindest mit nüchternen Wahrscheinlichkeiten zu beziffern. An der besonderen Gefahr dieser Mission ändert das Notfall-Szenario allerdings nichts.

"Es ist ein sehr gut durchdachter Plan, den wir natürlich unter keinen Umständen ausführen wollen", sagt Atlantis-Kommandant Chris Ferguson, ein Shuttle-Veteran mit ruhiger Stimme und grau melierten Schläfen. "Aber selbstverständlich haben wir für diese Situation trainiert."

Um den waghalsigen Flug ohne Sicherheitsnetz zu rechtfertigen, wurde der Mission in großen Worten eine besondere Bedeutung zugemessen. Die Atlantis soll, bevor die amerikanischen Lastesel endgültig eingemottet werden, noch einmal so viel Nachschub wie möglich zur Raumstation transportieren. "Dank dieser letzten Mission können wir kritische Versorgungsgüter für mindestens sechs weitere Monate in die Umlaufbahn bringen", sagt Michael Suffredini, der für die Raumstation zuständige Nasa-Manager. Es sei einer der wichtigsten Flüge im Leben der ISS.

Acht Tage wird die Atlantis an der Station angedockt bleiben. Zwölf Tage nach dem Start soll sie wieder in Florida landen - wenn alles gut geht und der Hitzeschild des Orbiters auf dem Weg ins All nicht beschädigt wird. Kommt es allerdings zu irreparablen Schäden, dann hat Houston ein Problem.

In den vergangenen Jahren stand für jeden startenden Spaceshuttle eine Rettungsfähre bereit. So schnell wie möglich, spätestens aber vier Monate nach dem ursprünglichen Start, hätte sie die gestrandete Besatzung auf der ISS abgeholt und wohlbehalten zur Erde gebracht. Im Fall der Atlantis müssten die Astronauten dagegen mühsam mit russischen Sojus-Kapseln zurückfliegen - einer nach dem anderen, wann immer ein Platz frei wird.

Schon im Vorfeld der Mission hat die Nasa daher beschlossen, möglichst wenige Raumfahrer in Gefahr zu bringen. Nur vier Astronauten sollen diesmal ins Cockpit klettern, so wenige wie seit April 1983 nicht mehr. "Das heißt: weniger Meinungen, mit denen ich mich herumschlagen muss", scherzt Kommandant Ferguson. In Wirklichkeit bedeutet die Minimalbesatzung allerdings Schwerstarbeit.

Die Zahl der Handgriffe während des Flugs und des Andockens ist in den vergangenen drei Jahrzehnten stark gestiegen. Zudem gibt es extrem viel Nutzlast auszuladen. Mehr als vier Tonnen Material muss die Atlantis-Crew vom Shuttle in die ISS hieven.

Im Notfall wären allerdings auch vier Astronauten vier zu viel: Sechs Mann wohnen und arbeiten derzeit an Bord der Raumstation, für deren Rückkehr - auch in einem eventuellen Notfall - sind zwei Sojus-Kapseln mit je drei Sitzplätzen angedockt. Weitere Kapseln können auf die Schnelle nicht ins All geschossen werden; der Bau der Sojus stockt in Russland.

Schiffbrüchige im All müssten daher nach und nach mit ohnehin geplanten bemannten Flügen zurückgeholt werden. Je nach verwendetem Sojus-Modell sollen dazu ein oder auch zwei Plätze in den startenden Kapseln frei bleiben. Für den Heimflug könnten es sich dann die Shuttle-Astronauten darin bequem machen - ihre individuell angepassten Sitzschalen haben sie bereits vor Monaten in Moskau ausprobiert.

Nach dem derzeitigen Rückholplan, der sich mit jeder Startverschiebung ändern kann, wäre der erste Atlantis-Astronaut nach 70 Tagen wieder auf der Erde. Der letzte, Pilot Doug Hurley, müsste dagegen 335 Tage auf der ISS ausharren, deutlich länger als je ein amerikanischer Raumfahrer zuvor.

Ein derart langer Zwangsaufenthalt wäre mit Risiken verbunden. Sollte die Raumstation evakuiert werden müssen - zum Beispiel wegen eines technischen Problems oder weil sie von einem Stück Weltraumschrott getroffen wird - stehen nicht genügend Rettungsboote für alle Crewmitglieder zur Verfügung. Die Sicherheitsabteilung der Raumfahrtbehörde, das Nasa Engineering and Safety Center (NESC), hat ausgerechnet, dass an insgesamt "963 Manntagen" zu viele Menschen an Bord der ISS wären.

Als noch Spaceshuttles als Rettungsfähren bereitstanden, war diese Zahl deutlich kleiner. Folglich lag dort die rechnerische Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Not-Evakuierung ein Crewmitglied zu verlieren, nur bei eins zu 300. Im Fall der Atlantis-Besatzung steigt sie auf eins zu 52.

Für sich genommen wäre dieser Wert sogar für risikobewusste Raumfahrer nicht tragbar. Weil zuvor aber noch einige andere Dinge schieflaufen müssten - nicht zuletzt eine Havarie der Atlantis -, sei das Risiko in dieser Kombination "akzeptabel", so das Fazit des NESC.

Allerdings bleibe im Fall einer schnellen Räumung der Station keine Zeit für Planungen oder Diskussionen. Daher müsse unbedingt "ein Evakuierungsprotokoll entwickelt und trainiert" werden. Das heißt: Es muss vorher feststehen, wer im Ernstfall zurückgelassen wird.

Aufgrund des langen Aufenthalts im All hätte es das NESC gerne gesehen, wäre unter den vier Atlantis-Astronauten ein Mediziner gewesen. Im Profil der Missionsplaner war dafür aber kein Platz. Stattdessen wurde den Raumfahrern ein besonderes Erste-Hilfe-Training verordnet, und sie mussten sich den gleichen rigorosen Gesundheitstests unterziehen wie eine Langzeitbesatzung der ISS. Trotzdem liegt das Risiko, dass einer der zehn Astronauten wegen eines medizinischen Notfalls zurückgeflogen werden muss, dieses Mal bei 8,5 Prozent - und damit etwa doppelt so hoch wie normal.

Sorgen machen den Nasa-Managern auch die Lebenserhaltungssysteme an Bord der Raumstation. Noch immer laufen Wasser- und Sauerstoffversorgung, Toiletten und Kohlendioxidfilter nicht fehlerfrei. "Schon im Normalfall könnte ich stundenlang von unseren Herausforderungen mit der Lebenserhaltung erzählen", sagt ISS-Programmmanager Suffredini. Das wirft die Frage auf, wie sich das auswirkt, müsste die Station plötzlich zehn Bewohner beherbergen?

Es gibt aber auch gute Nachrichten. Bei der Rettung durch einen Shuttle bestehe immer die Gefahr, dass die zu Hilfe eilende Fähre ähnliche Probleme bekomme wie der havarierte Orbiter, so das NESC. Bei den robusten Sojus-Kapseln gebe es diese Befürchtung nicht.

Die kühlen Rechner der Nasa geben daher die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl die Atlantis havariert, als auch die Rettungsaktion mit den russischen Kapseln scheitert, mit lediglich eins zu 3900 an. Dieser Wert bringt erfahrene Ingenieure nicht aus der Ruhe. "Raumfahrt ist nun einmal riskant", sagt Michael Suffredini, "aber damit haben wir gelernt zu leben."

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Quelle:
SZ vom 08.07.2011/mcs
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