Süddeutsche Zeitung

Sozialverhalten:Staunen macht die Menschen besser

Wer sich immer wieder irritieren lässt, ist sozialer und hilfsbereiter. Das haben Psychologen aus den USA herausgefunden. Der Grund: Staunende Menschen nehmen sich selbst nicht so wichtig.

Von Werner Bartens

Angeblich haben viele Erwachsene das Staunen längst verlernt - und nur Kindern bleibt dieses wunderbar entrückte Gefühl. Erstaunlich eigentlich, denn für Goethe war das Staunen das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann. Aristoteles sah in der Verwunderung gar den Anfang aller Weisheit.

Psychologen aus den USA erkennen im Staunen vor allem ein Verhalten, das Menschen zu sozialeren Wesen macht. Im Fachblatt Journal of Personality and Social Psychology beschreiben Wissenschaftler um Paul Piff, wie das Gefühl des Erstaunens dazu beiträgt, kooperativer, hilfsbereiter und altruistischer zu werden (Bd. 108, S. 883, 2015).

Die Erklärung dafür, warum uns das Staunen zu besseren Menschen macht, klingt verblüffend einfach. Wer staunt, gibt sich dem schwer zu beschreibenden Gefühl hin, an etwas teilzuhaben, das größer ist als man selbst - oder wie es Calvin und Hobbes ausdrücken, die sich angesichts der Unendlichkeit des Sternenhimmels wundern, "warum die Menschheit so einen Riesenaufstand um sich macht".

"Man hält sich selbst nicht mehr für den Mittelpunkt der Welt"

Wird das Verständnis von der Welt für einen Moment erschüttert, sei es durch Erlebnisse in der Natur, mit Kunst, Musik oder Religion, rückt das Selbst in den Hintergrund. "Die eigenen Sorgen verschwinden, und das Staunen ermutigt die Menschen, sich um das Befinden anderer zu kümmern", sagt Piff, der an der University of California in Irvine forscht.

Die Wissenschaftler hatten mehr als 2000 Freiwillige untersucht und sie danach befragt, wie leicht sie sich zum Staunen bringen lassen. In einer ersten Konstellation bekamen die Probanden zehn Lotterielose und mussten entscheiden, ob sie einige davon mit anderen teilen wollten. Wer sich immer wieder dazu hinreißen ließ, über die Welt oder seine direkte Umgebung zu staunen, erwies sich in der Folge als großzügiger und eher dazu bereit, von seinen Losen etwas abzugeben.

In anderen Experimenten bekamen die Freiwilligen Filme zu sehen, mit denen bestimmte Reaktionen hervorgerufen werden sollten. Einige Videos waren komödiantisch, andere langweilig bis neutral gehalten. Ein Teil der Probanden sah Filme über staunenswerte Naturphänomene. Wiederum zeigte sich anschließend ein bemerkenswertes Muster: Wen die Filme zum Staunen gebracht hatten, der verhielt sich hilfreicher, ausgleichender und war darum bemüht, von der Gruppe akzeptiert zu werden oder Freundschaften zu schließen.

"Man hält sich nicht mehr für den Mittelpunkt der Welt, wenn man staunt", sagt Piff. "Die Aufmerksamkeit verlagert sich, und man denkt auch an den Nutzen für andere." Frühere Studien haben gezeigt, dass Menschen, die offen für andere sind und sich überraschen lassen, nicht so egozentrisch sind. "Gemeinsame Erfahrungen, und seien sie noch so kurz, können aus einer Bedrohung ein Gefühl der Behaglichkeit entstehen lassen", sagt Jeffrey Mogil, der in Montreal untersucht, unter welchen Bedingungen Menschen mitfühlend und sozial reagieren.

Übrigens führen die unterschiedlichsten Auslöser bei Menschen zu sozialerem Verhalten - Hauptsache, sie staunen. Egal, ob die Probanden sahen, wie bunte Tropfen in Zeitlupe in ein Glas Milch fielen, oder ob sie von der Wucht irritiert waren, mit der Tornados ihr zerstörerisches Werk verrichten, oder ob sie staunend in einem Eukalyptus-Hain saßen: "Die Teilnehmer fühlten sich nicht mehr so wichtig und waren eher bereit, anderen beizustehen und sich für das große Ganze einzusetzen", sagt Piff. "Unsere Forschung weist darauf hin, dass es mehr Hilfe und mehr Rücksicht gäbe, wenn die Menschen öfter staunen würden."

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Quelle:
SZ vom 20.05.2015/fued
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