Sozialpsychologie:Wesen des Terrors

Selbstmordattentäter geben der Forschung Rätsel auf: Klug, gesund, gut situiert und in aller Welt zu Hause, machen sie den Terror unberechenbar - durch Normalität.

Anja Schröder

Da sitzt er, der 22 Jahre alte Märtyrer, und außer dem rot-weißen Palästinensertuch, das er um den Kopf gebunden hat, fallen nur diese Augen auf. Wimpern, die nicht stillhalten wollen. Augenlider, die zu flattern scheinen. "An die Nicht-Muslime Großbritanniens", sagt Shehzad Tanweer, der ehemalige Sportstudent der Leeds Metropolitan University mit deutlichem Yorkshire-Akzent, als wolle er zu einem Referat im Hörsaal ansetzen.

Sozialpsychologie: Ein Poster der palästinensischen Selbstmordattentäterin Zainab Abu Salim.

Ein Poster der palästinensischen Selbstmordattentäterin Zainab Abu Salim.

(Foto: Foto: dpa)

Doch was folgt, ist eine tödliche Botschaft an das ganze Land. Von "Völkermord" an Muslimen ist die Rede. Von Unterdrückung der "Mütter, Kinder, Brüder und Schwestern" in Palästina, Afghanistan, Tschetschenien, dem Irak. Und dann sind sie da - jene Worte, die sich längst wie ein Slogan eingebrannt haben: "Wir lieben den Tod, so wie Ihr das Leben liebt."

Attentäter ragen in keinerlei Hinsicht aus der Masse heraus

Nicht eifernd und fanatisch, sondern sachlich und klar vorgebracht aus dem Mund eines jungen Briten, der Muslim war. Der seinen Glauben ernst nahm, aber zum traditionellen Gewand in der Moschee ein Baseball- Cap trug. Der einen roten Mercedes fuhr und im Regal seine Sporttrophäen aufreihte. Es kann nicht Shehzad gewesen sein, hat der Onkel später zu den Reportern gesagt. Sondern irgendetwas, das hinter ihm stand.

Was, wusste niemand. Denn von Shehzad Tanweer, der sich am Morgen des 7. Juli 2005 in der überfüllten Londoner U-Bahn in die Luft gesprengt hat, blieben außer einem Videotestament nur ein paar DNS-Spuren und die unscharfen Bilder der Überwachungskameras - aber nichts, was eine solche Tat erklären könnte.

Nicht einmal dem Onkel. Die Erklärungsnot nach dem ersten Selbstmordattentat in Westeuropa zeigt vor allem eines: wie unendlich schwierig es ist, eine solche Tat vorherzusagen, ohne den potenziellen Täter zu kennen. Wo und wie soll man ihn ausmachen, bevor es zu spät ist? Genau darin scheint die zurzeit größte Bedrohung zu liegen: Die Attentäter ragen in keinerlei Hinsicht aus der Masse heraus.

Zudem ist nicht nur die Zahl der Selbstmordattentate in den letzten fünf Jahren in die Höhe geschnellt - laut Statistik der amerikanischen Rand Corporation wurden fast 90 Prozent der seit 1981 weltweit gut 860 Selbstmordanschläge erst nach den Attentaten des 11. September 2001 verübt; andere Forscher zählen sogar über 1000 solcher Anschläge.

Auch geografisch hat sich der Terror durch Selbstmordanschläge ausgebreitet: in Länder wie Katar, Usbekistan oder Marokko. "Wir sprechen über Leute aus Nordafrika und Südasien, aus dem Nahen Osten, der Karibik sowie aus Westeuropa", sagt Bruce Hoffman, Terrorismusexperte und Direktor des Washingtoner Rand-Büros. Organisiert sind sie auch nach Erkenntnissen von Polizei und Geheimdiensten in kleinen Gruppen, die nicht zwangsläufig von einer Organisation wie Al-Qaida gelenkt werden.

Wesen des Terrors

Um zu versuchen, ihnen auf die Spur zu kommen, ist es neben der Fahndung nach weit verzweigten Verschwörungen, die sich vielleicht per Telefon oder E-Mail über ihre Pläne austauschen, heute wichtiger denn je, das psychologische Profil der potenziellen Täter zu schärfen. Deshalb haben Kriminalisten, Psychologen und Soziologen heute Hochkonjunktur, die Antworten suchen bei jenen meist jungen Menschen, die bereit waren zu sterben. Sie befragen Überlebende, deren Sprenggürtel nicht explodiert sind.

Sozialpsychologie: Ziad Jarrah, vormaliger Flugzeugbaustudent in Hamburg-Harburg, entführt am 11. September 2001 den United-Airlines-Flug 93. Seiner Freundin schreibt er in einem Abschiedsbrief, sie solle stolz auf ihn sein.

Ziad Jarrah, vormaliger Flugzeugbaustudent in Hamburg-Harburg, entführt am 11. September 2001 den United-Airlines-Flug 93. Seiner Freundin schreibt er in einem Abschiedsbrief, sie solle stolz auf ihn sein.

(Foto: Foto: ddp)

Keine straffe Organisationsstruktur

Aber auch hinterbliebene Eltern und Geschwister, Freunde und Bekannte, mit deren Hilfe sie sogenannte "psychologische Autopsien" der Toten erstellen. Und diese Studien zeigen vor allem eines: dass Menschen wie der Studienabbrecher und Mercedesfahrer Tanweer eben keine besonderen Merkmale aufweisen. Dass die Attentäter keine Kranken, keine auffälligen Psychopathen sind, sondern gewöhnliche Menschen. Manchmal sogar in der westlichen Zivilisation geboren und aufgewachsen.

Nicht ärmer als der Durchschnitt, sagt der eine Forscher, vielleicht sogar eher etwas besser situiert, meint der andere. Nicht einfältig oder ungebildet, sondern häufig studiert. Es sind meist junge Menschen, die nie kriminell waren. Und plötzlich in den Tod gehen, um zu töten. Wie Tanweer und seine drei Mitstreiter, die sich aus den Sporthallen von Beeston kannten.

Junge Leute, auf die vor allem ein Attribut zutrifft: normal. Sind es also raffinierte Anwerber, die gewöhnliche Leute rekrutieren, einlullen, indoktrinieren und in Ausbildungslagern für die tödliche Mission trainieren? Studien zeichnen ein anderes Bild - etwa im palästinensischen Fall: Die Hälfte der Selbstmordattentäter kommt aus eigenem Antrieb auf terroristische Gruppen zu.

Und bei den anderen 50 Prozent spielen sich verblüffend simple Prozesse ab: Kontaktaufnahmen über Freunde oder die Familie - ein System, das keineswegs auf einer straffen Organisationsstruktur, sondern vielmehr auf losen Zusammenschlüssen basiert. "Da rekrutiert zum Beispiel der ältere Bruder den jüngeren oder Freunde planen zusammen ein Attentat", erklärt der israelische Politikwissenschaftler Ami Pedahzur von der University of Texas in Austin.

Was für die überschaubaren Gemeinschaften in Gaza oder im Westjordanland gilt, funktioniert problemlos auch im globalen Dorf der Dschihadis, der radikalen Islamisten, die über alle Welt verteilt leben. Das Internet macht es möglich. "Über das Netz kann man nicht nur andere indoktrinieren, es schafft auch Solidaritätsgefühl unter Menschen an entlegensten Orten der Welt", sagt der israelische Islamexperte Reuven Paz.

Eine seltsame Art von Gruppentherapie

Wie aber entsteht jene gemeinschaftliche Verbundenheit innerhalb der dezentralen, kleinen Gruppen? Die Psychologin Anne Speckhard von der Freien Universität Brüssel, die anhand von Interviews mit Hinterbliebenen tschetschenischer Selbstmordattentäter "psychologische Autopsien" erstellt hat, lieferte zur Beantwortung dieser Frage erste Anhaltspunkte: "In praktisch allen untersuchten Fällen hatten die Selbstmordattentäter miterlebt, wie ein Familienmitglied gefoltert oder vor ihren Augen umgebracht wurde", sagt sie.

Die Folge sei eine "schwerwiegende Traumatisierung" gewesen. Dieser Befund erklärt ansatzweise sogar Fälle wie jenen Shehzad Tanweers, der nicht etwa umgeben von Krieg und Gewalt in Grosny oder Gaza-Stadt, sondern in einem verschlafenen Stadtviertel in Nordengland groß wurde. So habe sie in Marokko ähnliche junge Männer gefunden, die bereit waren zu sterben, ohne jemals selbst ein traumatisches Erlebnis gehabt zu haben, sagt Speckhard.

Meilenweit entfernt von den Orten der Unterdrückung der "Mütter, Kinder, Brüder und Schwestern" hatten diese jungen Männer das Schicksal Fremder im Fernsehen oder auf Videobändern verfolgt und dabei erlebt, was Speckhard "sekundäres Trauma" nennt: "Diese Leute hatten fürchterliche Bilder aus Palästina oder Tschetschenien gesehen."

Dennoch wäre es falsch, im Selbstmordattentäter den verzweifelten Einzeltäter zu sehen. Den Amokläufer, dessen aufgestaute Wut sich plötzlich in seinem Umfeld entlädt. Vielmehr erklären Speckhards Befunde auch, wie sich jene eingeschworenen Gruppen bilden, auf die ein Selbstmordattentäter angewiesen ist: weil sie nicht nur helfen, einen Anschlag zu planen und vorzubereiten, sondern vor allem das nötige "Wir-Gefühl" erzeugen. Die Gemeinschaft gebe den primär oder sekundär Traumatisierten "einen gewissen Sinn zurück sowie ein Mittel, sich zu rächen", erklärt Speckhard.

Zusammengerückt gegen das, was als permanente Ungerechtigkeit empfunden wird, stellt die Gruppe ein Auffangbecken für Verletzung, Empörung, Wut und Sehnsüchte dar. Und die Betroffenen nähmen diese "psychologische erste Hilfe" dankbar an, sagt Speckhard, "so wie man anderswo eben Prozac nimmt." Religion eignet sich für diese Art der Hilfeleistung offenbar besonders gut.

Wesen des Terrors

Sozialpsychologie: An einer Wand in einem palästinensischen Flüchtlingslager hängen Poster von Selbstmordattentätern.

An einer Wand in einem palästinensischen Flüchtlingslager hängen Poster von Selbstmordattentätern.

(Foto: Foto: AP)

Die Angebote im Internet sollten aber dafür werben, die Probleme anders zu lösen als auf jenem schnellsten, gewaltsamsten und simpelsten Weg. Denn es gehört nicht viel dazu, sich in die Luft zu jagen. Der Sprengsatz am Körper oder im Auto ist eine Waffe, die sich einfach bedienen und mit der sich auf schlichte Weise eine hohe Trefferquote erzielen lässt.

Makabre Hitliste: Irak hat Israel überholt

Schließlich sterben dabei viermal so viele Menschen als bei gewöhnlichen Bombenanschlägen. Denn die "smart bombs", wie Selbstmordattentäter auch genannt werden, können Ort wie Zeit der Explosion selbst wählen und benötigen keinen Fluchtplan.

So ist längst ein Krieg militärischer Laien entbrannt, für den heute beispielhaft der Irak steht. Das Land verzeichnet seit der US-geführten Invasion im März 2003 die meisten Selbstmordattentate weltweit - schon mehr als die Hälfte aller jemals registrierten Anschläge.

Der Irak hat damit Israel überholt, das viele Jahre vorn lag in dieser makabren Hitliste. Denn er ist zum Reiseziel Nummer eins im internationalen Selbstmordterrorismus geworden: für Kämpfer vor allem aus Saudi-Arabien, aber auch für Menschen arabischer oder nordafrikanischer Abstammung, die in Ländern wie Spanien, Italien oder Frankreich leben.

Dabei handelt es sich, gibt der Politologe Mohammed Hafez von der University of Missouri zu bedenken, meist um Leute ohne jeden militärischen Hintergrund, "von denen manche nicht einmal wissen, wie man schießt." Muriel Degauque zum Beispiel ist so ein Fall. Ihr Name steht auf der Liste des Politikwissenschaftlers Hafez an 90. Stelle.

Das schönste Kleid von allen soll die einst wohlbehütete Tochter aus der belgischen Industriestadt Charleroi bei der Erstkommunion getragen haben. Doch Jahre später war solch christliche Bürgerlichkeit kein Thema mehr für sie. Denn als ihr Bruder bei einem Motorradunfall starb, wurde aus der jungen Frau mit dem sanften Blick eine Drogensüchtige.

Bis sie begann, den Koran zu studieren. Und während der neue Glaube half, die Drogen hinter sich zu lassen, machte er gleichzeitig den Weg frei für einen neuen Lebensinhalt: Nur die Augen schauten unter dem Tschador hervor, ohne den Muriel Degauque das Haus irgendwann nicht mehr verlassen haben soll.

Bis sich die 38 Jahre alte Konvertitin am 9. November 2005 im irakischen Bakuba nahe einer amerikanischen Militärpatrouille in die Luft jagte. Doch so klar wie in ihrem Fall lässt sich der Gewaltakt nur selten aus der Person des Attentäters erklären.

"So verlieren diese Frauen leider gleich zweimal"

Gelegentlich ist auch seine schwache gesellschaftliche Position entscheidend. So hört man über die tamilische Rebellenorganisation LTTE, die auf Sri Lanka ein eigenes Selbstmordkommando unterhält, dass sie immer wieder Kinder zu terroristischen Operationen aller Art zwinge.

Und der türkische Politikwissenschaftler Dogu Ergil berichtet über Zwangsrekrutierungen von Frauen, die sich für die PKK in die Luft sprengen sollten. So sei zum Beispiel eine Attentatsverweigerin vor den Augen der nächsten Kandidatin erschossen worden, um sie zu zwingen.

Manche Kurdinnen aber hätten sich auch aus freien Stücken angeboten, weil es für sie eine "Chance zur Emanzipation" gewesen sei: raus aus den Hinterhöfen der patriarchalischen Dorfgemeinschaften, rein in ein Leben in den Bergen, in dem Frauen und Männer auf vermeintlich gleicher Augenhöhe gegen den Feind kämpfen. "So verlieren diese Frauen leider gleich zweimal", sagt Ergil.

Der vermeintliche Ausweg aus der Unterdrückung führt in den Tod. Und auch aus Israel hört man Geschichten von subtilem Zwang, dem weibliche Attentäter ausgesetzt waren: Palästinenserinnen, für die es nach einer Affäre oder einer Scheidung angeblich nur einen Weg gab, die eigene Ehre und die der gesamten Familie zurückzuerlangen.

Denn für einen Araber, sagt der Islamexperte Reuven Paz, sei die Ehre, die eigene, die der Familie und des Clans, "das wichtigste Element". An diesen ultimativen Wert knüpft die Verehrung an, die Märtyrern auf Postern der radikal-islamischen Hamas entgegengebracht wird: Ihre Gesichter, von Koranversen eingerahmt, lächeln von den Häuserwänden in Nablus. Fatah-Mitglieder posieren mit Handgranaten im Mund für die Kamera.

"Was Ihr gesehen habt, ist nur der Anfang"

Und auf den Straßen rennen kleine Jungs in Märtyrer-T-Shirts an Mauern vorbei, auf denen Graffitis daran erinnern, dass die Helden nicht etwa tot sind, sondern sich in einer besseren Welt befinden. Zunächst scheint es aussichtslos, ein solch fest gefügtes Wertesystem zu durchbrechen.

Die Psychologin Anne Speckhard aber begegnet diesen Zweifeln mit einer Hoffnung machenden, kleinen Geschichte. Sie handelt von einem 15-jährigen Tschetschenen, der sich freiwillig gemeldet hatte, um als Märtyrer zu sterben.

Völlig überzeugt von der Sache sei er gewesen. Stets habe er ein kleines Porträt Osama bin Ladens bei sich getragen. Doch ihre Kollegin in Grosny, sagt Speckhard, habe nur wenige Gesprächssitzungen gebraucht, um den Jungen von seinem Plan loszueisen und ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Es klingt erstaunlich, vielleicht auch unwahrscheinlich. Aber es macht deutlich, dass das Aufbieten von Alternativen etwa in den muslimischen Gemeinden Westeuropas zu einer wichtigen Sicherheitsstrategie werden könnte: "Wir klären in den Schulen über Rauchen und Aids auf, warum nicht auch über Ideologien? Warum zeigen wir nicht effektivere Wege auf, zum Beispiel, wie man politisch gewinnen kann?", fragt Speckhard.

"Was Ihr gesehen habt, ist nur der Anfang", hatte Shehzad Tanweer am Ende seiner Videobotschaft gesagt. "Dieser Krieg" werde weitergehen, bis alle Truppen aus dem Irak und Afghanistan abgezogen seien.

Das Erschreckende daran ist nicht nur die Drohung, sondern auch die Tatsache, dass Shehzad Tanweer keine Chance zur politischen Auseinandersetzung sah und dass die Schlacht für ihn bereits beendet war, wenige Sekunden nachdem er an der Liverpool Street den zweiten U-Bahn-Waggon bestiegen hatte. Für einen Selbstmordattentäter wie Shehzad Tanweer war der Krieg schon vorbei, bevor er überhaupt versucht hatte, den Kampf aufzunehmen.

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