Süddeutsche Zeitung

Sonnenbaden:Es werde Licht

Ein kurzes Sonnenbad in der Mittagspause macht zwar nicht braun, ist aber gesund: Mediziner finden immer mehr Gutes an den sommerlichen Strahlen - solange diese in Maßen genossen werden.

Richard Friebe

Die Sonne feiert ihr Comeback im Keller. Gebäude 18, Universitätsklinikum des Saarlands in Homburg. Hier in den Katakomben der Hautklinik betreibt Jörg Reichrath seine Grundlagenforschung. Patienten behandelt der Professor für Dermatologie in den Stockwerken darüber.

Reichrath redet nahezu mit Lichtgeschwindigkeit. In gefühlten fünf Minuten ist das gesamte Forschungsgebiet umschrieben, der aktuelle Stand der Wissenschaft erläutert. Und die entscheidende Meinung geäußert: "Die Sonne ist in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr verteufelt worden." So sehr, dass es ziemlich ungesunde Folgen haben könnte.

Reichrath vertritt unter Hautärzten eine Minderheit. Doch nach Jahrzehnten, in denen beinahe ausschließlich vor den Strahlen gewarnt wurde, erheben sich inzwischen immer mehr Stimmen wie die des Schnellsprechers aus dem Saarland. Sie fordern ein Umdenken.

Ihr Hauptargument: Die Haut braucht Sonne, um Vitamin D zu bilden. Das ist wichtig für den Knochenaufbau - und, so zeigt sich nun, auch für viele andere Körperfunktionen. Vitamin D schützt offenbar vor Multipler Sklerose. Es senkt das Diabetesrisiko. Es wirkt vorbeugend gegen Asthma, Rheuma und andere Autoimmunkrankheiten und wehrt wahrscheinlich auch Infektionen ab. Sogar gegen Bluthochdruck hilft es. Und offenbar bewahrt es auch vor einigen der häufigsten Krebsarten oder lässt sie glimpflicher verlaufen.

Also nichts wie zurück in die Sonne? Wenn es so einfach wäre. Darüber, wie viel Strahlung gut und gesund ist, ob man sie überhaupt braucht oder man Vitamin D nicht lieber als Nahrungsergänzung einnehmen sollte, ist ein Streit unter Wissenschaftlern entbrannt. Ein heftiger.

Michael Holick, einer der bekanntesten Verfechter der These vom "Schützenden Sonnenlicht" (sein gleichnamiges Buch ist beim Haug-Verlag erschienen) wurde von Kollegen gar als Schande für den ganzen Berufsstand bezeichnet. Der Endokrinologe, der erstmals die hormonelle Wirkung von Vitamin D nachweisen konnte, musste infolge des öffentlichen Drucks sogar seine Lehrtätigkeit am dermatologischen Institut der Boston University einstellen.

Der griechische Sonnengott Helios wird gern mit Schwert dargestellt. Der Forscherstreit zeigt, wie zweischneidig selbiges ist: Auf der einen Seite gibt es das unbestrittene Hautkrebsrisiko durch die Sonne, auf der anderen deren indirekte positive Wirkungen, die zum Teil belegt sind, häufig aber auch nur vermutet werden. Wer soll entscheiden, was wichtiger ist und die Gesundheit fördert? Sollen Menschen ein gewisses Hautkrebsrisiko eingehen, um dafür ein vielleicht viel größeres, aber nicht eindeutig nachgewiesenes Darm- oder Brustkrebsrisiko zu mindern? Wann soll man in die Sonne gehen? Wie viel Vitamin D ist gut? Sollte man es lieber als Pillen schlucken? Und was ist mit Solarien?

Wer Ärzte und Physiologen fragt, die als führend auf diesem Gebiet gelten, wird auf den ersten Blick enttäuscht. Eindeutige Antworten gibt es nicht. "Das sind Fragen, mit denen wir hart kämpfen, die Sache ist sehr komplex", sagt die Epidemiologin Robyn Lucas.

Sie kommt aus dem Land, das die meisten einschlägigen Erfahrungen mit der Sonne hat: aus dem unter dem Ozonloch leidenden Australien. Lucas hat für die Weltgesundheitsorganisation im Jahr 2006 eine Studie verfasst, die den Titel trägt: "Die globale durch ultraviolette Strahlung bedingte Krankheitslast". Sie und ihre Kollegen kommen darin zu einem unerwarteten Schluss: Das weltweite Krankheitsrisiko durch zu wenig ultraviolettes Licht (UV) und zu wenig Vitamin D könnte viel größer sein als die Folgen der Strahlenschäden auf der Haut.

Die Sonnenschutzbotschaften der vergangenen Jahrzehnte seien "wahrscheinlich überzogen" gewesen, sagt Lucas. Aber "wir wissen nicht, ob wirklich weite Bevölkerungsgruppen mit Vitamin D unterversorgt sind". Die Zahl der Studien, die eine schützende Wirkung von UV-Licht und Vitamin D belegen, nehme zwar zu, die Beweislage sei aber noch nicht eindeutig. "Daher sollte man keine überstürzten Schlussfolgerungen ziehen", sagt Lucas.

Der Tübinger Dermatologieprofessor Claus Garbe plädiert dafür, sich "an das zu halten, was wir genau wissen: dass Sonnenstrahlung Hautkrebs auslöst". Den krebshemmenden Vitamin-D-Effekt nennt er "rein spekulativ". Doch auch beim Hautkrebs ist nicht alles so klar, wie es oft dargestellt wird. Erwachsene zum Beispiel können durch Sonnenschutz oder -abstinenz ihr Risiko, ein Melanom zu bekommen, kaum mehr mindern. Dieser "schwarze Hautkrebs" entsteht häufig bei jenen, die in ihrer frühen Kindheit oft im Sonnenurlaub waren. Eine spätere Verhaltensänderung bringt nichts mehr.

Sonnencreme schützt nicht vor Hautkrebs

Wer sein Leben lang häufig in der Sonne war, senkt laut einer Studie, die 2003 im Journal of Investigative Dermatology erschien, sogar die Gefahr, an einem solchen Tumor zu sterben. Auch hierfür, sagt Reichrath, ist wahrscheinlich Vitamin D verantwortlich. Noch überraschender: Sonnencreme schützt nicht vor Hautkrebs.

Als Claus Garbe die relevanten Studien durchforstete, musste er feststellen, dass selbst treue Nutzer einer Sonnencreme mit hohem Schutzfaktor nicht von ihrer Hautpflege profitierten. Weder Melanome noch die häufigere, aber nicht so gefährliche Krebsart der Basalzellkarzinome entstehen bei ihnen seltener. Allein beim Plattenepithelkrebs sinkt das Risiko ein wenig.

"Auch Schatten hilft kaum", sagt Garbe. Nur wer intensive Sonnenstrahlung ganz meidet oder sich durch dichte Kleidung schützt, verbessert die Aussichten seiner Haut. In Boston arbeiten Forscher derzeit allerdings an einer Creme, die wirklich schützen soll.

Sonnencremes bringen ein weiteres Problem mit sich: Sie lassen viel des bräunenden UV-A-Anteils des Sonnenlichts durch. Die energiereicheren UV-B-Strahlen werden größtenteils geblockt, um Sonnenbrände zu verhindern. UV-B ist aber nicht nur für gerötete Haut verantwortlich, sondern auch für die Produktion von Vitamin D. Unter dem Einfluss der UV-B-Strahlung wird es in der Haut aus einer Cholesterinverbindung gebildet. Diese Form des Vitamin D hat selbst noch keine Wirkung. Sie muss zunächst in Leber, Niere und vielen anderen Geweben umgebaut werden.

Am Ende dieser Reaktionskette entsteht das wirksame Vitamin- D-Hormon. Es kontrolliert die Aufnahme von Kalzium, das unter anderem für einen stabilen Knochenaufbau benötigt wird. In den Zellkernen des Körpers überwacht es Gene - vor allem solche, die bei der Zellteilung eine Rolle spielen. Auf diese Weise hilft es, entartete Zellen in den Selbstmord zu treiben und damit Krebs zu verhindern.

Und auch für ein funktionierendes Immunsystem ist es unabdingbar. Vitamin D ist lebenswichtig. Aber hier hört die Einigkeit unter den Forschern auf. Nur noch wenige Menschen leiden heute unter offensichtlichen Vitamin-D-Mangelerkrankungen des Knochenapparats wie Rachitis und Osteomalazie. Ob die Konzentration des Vitamins im Blut schon ausreichend hoch ist, wenn derartige Leiden gerade so vermieden werden, ist umstritten.

Sonnenbefürworter setzen auf deutlich höhere Blutwerte, um alle Vorteile des Vitamins nutzen zu können. Als möglicher Richtwert wird eine Konzentration von 50 Nanomol pro Liter Blut diskutiert. Wäre das die Norm, hätten viele Bewohner Deutschlands tatsächlich ein Vitamin-D-Problem.

Birte Hintzpeter und ihre Kollegen vom Robert-Koch-Institut fanden in einer Studie an 4000 Probanden, dass fast 60 Prozent unter 50 Nanomol lagen. Alte Menschen und solche mit Migrationshintergrund hatten am wenigsten im Blut.

Der Ernährungswissenschaftler Reinhold Vieth von der University of Toronto ist ein ausgesprochener Verfechter der Sonnenund Vitamin-D-These. Er sagt aber auch: "Die Sache ist kompliziert." Denn Mensch ist nicht gleich Mensch, Haut nicht gleich Haut, Sonnenbad nicht gleich Sonnenbad. "Um es richtig zu machen, muss man seinen Hauttyp kennen." Der entscheidet nicht nur, wie schnell jemand einen Sonnenbrand bekommt, er bestimmt auch, wie viel Vitamin D entsteht.

Dunkle Typen und Vorgebräunte brauchen länger. Außerdem variiert der Anteil der UVB-Strahlen stark - er ist abhängig von Tages- und Jahreszeit, vom Wetter und davon, ob jemand im Norden oder im Süden, im Flachland oder in den Bergen wohnt.

Am besten wäre es, so Vieth, wenn es wie in Australien überall einen lokalen täglichen UV-Informationsservice gäbe. Als Faustregel rät er, täglich beide Körperseiten je zehn Minuten in Badekleidung intensiver Sonnenstrahlung auszusetzen. Oder - vor allem im Winter - das Vitamin als Pillen zu schlucken. "Mir ist egal, wie man es macht, die Leute sollten jedenfalls ihre Blutwerte hoch halten, am besten über 75 Nanomol pro Liter".

Doch auch die scheinbar logische Alternative, Vitamin D zu essen, hat ihre Tücken. Zwar versprechen manche Studien gesundheitliche Vorteile durch die Pillen. So sank bei älteren Frauen im US-Bundesstaat Nebraska, die hohe Dosen einnahmen, die Zahl der Krebsdiagnosen schon innerhalb von vier Jahren deutlich. Gelegentlich hat Vitamin D aus der Nahrung aber auch ernste Nebenwirkungen: Nierensteine können sich vermehrt bilden, das Risiko für Gefäßkrankheiten kann steigen.

Rolfdieter Krause, der an der Berliner Charité die Arbeitsgruppe für Heliotherapie leitet, hat die blutdrucksenkende Wirkung von Sonne und Vitaminpillen verglichen. Ergebnis: UV-Bestrahlung wirkt so gut wie verschreibungspflichtige Blutdrucksenker, die Gabe von Vitamin D bringt dagegen keine sichere Verbesserung der Werte.

Solarien sind kein guter Sonnenersatz

Auch Solarien sind kein guter Sonnenersatz, da sie weniger UV-B aussenden als die Sonne, dafür aber mehr UV-A, das Falten und wahrscheinlich auch Krebs verursacht. Es gibt allerdings medizinische Speziallampen. Sie können, sagt Krause, etwa bettlägerigen Patienten mit Vitamin-D-Mangel helfen.

Selbst Hautärzte, die das über Jahrzehnte mühsam erarbeitete Bewusstsein für die Risiken des Hautkrebses in Gefahr sehen, verteufeln die Sonne nicht mehr komplett. Barbara Gilchrest, die den Kollegen Holick einst unsanft aus ihrer Abteilung in Boston herauskomplimentiert hatte, rät inzwischen, dreimal pro Woche die Mittagsonne an Gesicht und Unterarme zu lassen. Wie lang, hänge vom Hauttyp ab.

Als Richtwert empfiehlt sie: ein Viertel der Zeit, die nötig ist, um erste Anzeichen eines Sonnenbrands auszulösen. Menschen, deren Haut nach 20 Minuten rosafarben wird, sollten ihre Solarsitzung möglichst nach fünf Minuten beenden. Das ist fast genau das, was Holick schon lang propagiert. Vielleicht ist der Sonnenstreit der Forscher also bald beigelegt, denn auch der Hautkrebsspezialist Claus Garbe sagt: "Zu einer solchen Empfehlung kann ich stehen."

Bei Kindern im Vorschulalter sei allerdings besondere Vorsicht geboten - aber ganz aus der Sonne holen sollten Eltern sie auch nicht. Denn dann leidet das Immunsystem. Wer jetzt allerdings im Urlaub exzessive Sonnenbäder mit der Produktion von Megadosen eines schützenden Vitamins rechtfertigen will, kann nicht auf Unterstützung von auch nur einem ernst zu nehmenden Forscher hoffen. Denn nach etwa 20 Minuten intensiver Sonne hört die Haut auf, Vitamin D zu produzieren. Danach wird sie höchstens rot oder braun. Und langfristig erhöht sich das Hautkrebs- und Faltenrisiko.

"Ich persönlich würde in Maßen, aber regelmäßig in die Sonne gehen", sagt auch der Homburger Dermatologe Jörg Reichrath. Der Espresso mittags im sonnigen Straßencafé ist seiner Meinung nach optimal. Glücklich, wer ein solches direkt um die Ecke hat.

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Quelle:
SZ Wissen 6/2008/beu
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