Am ersten Sonntag im September drehte der Sommer noch einmal so richtig auf: Sonne satt in weiten Teilen des Landes, zur Freude von Eisverkäufern und Biergartenwirten. Und auch Besitzer von Solarmodulen konnten sich freuen, viele Anlagen erzeugten stundenweise mit maximaler Leistung Strom. Landesweit lieferte die Photovoltaik, große Solarparks genauso wie kleine Hausanlagen, in den Mittagsstunden rund 41 Gigawatt. Der gesamte Verbrauch lag in dieser Zeit bei rund 49 Gigawatt. Die Solarsysteme konnten also kurzzeitig fast den gesamten Bedarf decken.
Was aus Klimaschutz-Sicht sehr zu begrüßen ist, macht viele Energieexperten, darunter der Chef der Bundesnetzagentur Klaus Müller, allerdings nervös. Denn mit dem weiteren Ausbau der Photovoltaik könnte es schon bald dazu kommen, dass in manch sonnigen Stunden mehr Solarenergie ins Stromnetz fließt als benötigt wird. Verschärft wird das Problem von Kohle-, Gas-, Biomasse- und Wasserkraftwerken, deren Einspeisung sich aus technischen oder vertraglichen Gründen nicht auf null zurückfahren lässt. Für eine sichere Versorgung müssen Stromangebot und -nachfrage aber stets im Gleichgewicht sein.
Wird mehr Energie eingespeist, steigt die Netzfrequenz – im schlimmsten Fall so weit, dass die Betreiber regionaler Verteilnetze mancherorts den Strom abdrehen müssen. „Angesichts des starken Photovoltaik-Zubaus kann es bei viel Sonnenschein unter Umständen schon im kommenden Jahr an verbrauchsarmen Tagen wie Ostern oder Pfingsten zu Problemen im Netz kommen“, sagt der Energieökonom Lion Hirth von der Hertie School in Berlin.
Bislang gelingt es den Netzbetreibern, das System in der Balance zu halten. Im bundesweiten Durchschnitt fiel nach Angaben der Bundesnetzagentur im gesamten Vorjahr nur knapp 13 Minuten lang der Strom aus, so wenig wie in kaum einem anderen Land der Welt. Die Störungen gehen fast immer auf Bauarbeiten, bei denen Kabel durchtrennt werden, oder Extremwetterereignisse wie Orkane und heftige Schneefälle zurück, nicht aber auf eine übermäßige Einspeisung von Solar- oder Windstrom. Je mehr Photovoltaik-Leistung installiert ist, desto größer wird jedoch die Herausforderung, Einspeisung und Entnahme auszubalancieren.
Betreiber großer Anlagen müssen ihren Strom selbst vermarkten
Sorgen bereiten Hirth und anderen Fachleuten dabei nicht die Großanlagen, sondern die Solarsysteme mit weniger als 100 Kilowatt Leistung, wie sie etwa auf Wohnhäusern, Scheunen oder kleineren Gewerbebauten montiert sind. Sie machen ungefähr zwei Drittel der gesamten installierten Photovoltaik-Leistung aus. Deren Betreiber bekommen für den eingespeisten Strom eine fixe Vergütung, unabhängig davon, ob die Energie gerade benötigt wird oder nicht, erläutert Hirth. „Damit haben sie einen Anreiz, Strom auch dann ins Netz zu speisen, wenn es dafür gar keinen Bedarf gibt.“
Die Betreiber von Solarparks und größeren Dachanlagen dagegen sind verpflichtet, ihren Strom selbst zu vermarkten. Die meisten verkaufen ihn an der Börse. Und dort drehen die Preise in den negativen Bereich, sobald das Angebot die Nachfrage übersteigt. Die Erzeuger müssen dann also Geld dafür bezahlen, dass ihnen jemand den Strom abnimmt – ein guter Grund, die Anlagen in diesen Stunden abzuschalten.
Die scheidende Bundesregierung hat deshalb ein Gesetz zur Änderung des Energiewirtschaftsrechts auf den Weg gebracht, das Kleinanlagen, die nach Inkrafttreten des Gesetzes installiert werden, davon abhalten soll, am Bedarf vorbei Strom ins Netz zu speisen. So sieht der noch nicht vom Bundestag verabschiedete Gesetzesentwurf unter anderem vor, dass bei neuen Anlagen mit einer Leistung von bis zu 100 Kilowatt die Vergütung in Stunden mit negativen Börsenpreisen ausgesetzt wird, sobald diese mit entsprechenden Messsystemen ausgestattet sind.
Eine sehr sinnvolle Regelung, meint Strommarkt-Experte Andreas Jahr, der für die Think-Tanks Agora Energiewende und Regulatory Assistance Project tätig ist. „Bekommen die Anlagenbetreiber kein Geld für ihren Strom, werden sie zusehen, ihn selbst zu verbrauchen oder in einen Batteriespeicher zu laden“, sagt Jahn. Bislang tragen Heimspeicher kaum dazu bei, Einspeisespitzen der Photovoltaik zu kappen, da sie an sonnigen Tagen meist schon am frühen Vormittag mit dem Laden beginnen. Wenn die Photovoltaik-Anlagen mittags mit voller Leistung Strom ins Netz speisen, sind die Batterien bereits voll.
Darüber hinaus verlangt die Novelle, dass neue Anlagen mit einer Leistung ab sieben Kilowatt – das entspricht 15 bis 20 Modulen, etwa mittlere Größe für eine Dachanlage – eine Steuerung bekommen, mit der Netzbetreiber sie im Notfall aus der Ferne kurzzeitig abschalten können. Vom ursprünglichen Plan, die Schwelle, bis zu der neue Solarsysteme eine fixe Vergütung erhalten, schrittweise von 100 auf 25 Kilowatt abzusenken, haben SPD und Grüne dagegen Abstand genommen.
Zur Entschärfung des Problems könnte auch beitragen, dass alle Versorger ab Anfang 2025 verpflichtet sind, dynamische Stromtarife anzubieten. Deren Höhe verändert sich im Stundentakt, abhängig von der Entwicklung an der Strombörse. „Dynamische Stromtarife geben den Kunden einen Anreiz, Verbräuche wie das Laden eines Elektroautos an sonnigen Tagen in die Mittagsstunden zu legen, wenn also viel Solarstrom ins Netz fließt und die Energie daher günstig ist“, erklärt Jahn.
Von April kommenden Jahres an müssen zudem die Netzbetreiber den Eigentümern steuerbarer Wärmepumpen und Wallboxen in manchen Stunden vergünstigte Netzentgelte anbieten. Auch das soll motivieren, Strom bevorzugt dann zu nutzen, wenn viel eingespeist wird. Um von dynamischen Stromtarifen und Netzentgelten profitieren zu können, ist allerdings ein Smart Meter notwendig, sagt Jahn. „Der Einbau dieser Zähler kommt jedoch nur äußerst schleppend voran. Damit verschenken wir großes Potenzial für die Stabilisierung der Netze.“