Wie locker das Geld im Silicon Valley sitzt, sieht man an den kleinen Dingen. Zum Beispiel an einem Geige spielenden Männchen. Forscher von Facebook haben es entworfen und mit künstlicher Intelligenz (KI) ausgestattet. Den Geigenbogen führt das Männchen inzwischen so exakt wie ein menschlicher Geiger. Das ist nett anzusehen, auch wenn es sich nur um eine Spielerei handelt. Für das Kerngeschäft wird das soziale Netzwerk vermutlich nie auf Geige spielende Avatare angewiesen sein. Und vielleicht wird Facebook bald wieder auf sie verzichten müssen. Nicht weil das Geld fehlt, sondern weil die Entwickler knapp werden, die solche Animationen programmieren können.
Facebook betreibt bereits im Silicon Valley, in New York, Paris und Montreal Labore für die Entwicklung von künstlicher Intelligenz. Demnächst sollen neue in Pittsburgh und Seattle hinzukommen. Der Internetgigant hat dafür extra etliche prominente Wissenschaftler angeheuert. Sie kommen von Eliteuniversitäten wie Stanford und Carnegie Mellon und sollen für viel Geld innerhalb des Unternehmens Spitzenforschung betreiben.
Google, Microsoft, Amazon, Facebook - all die großen, mächtigen IT-Konzerne
Nebenbei haben die KI-Spezialisten noch einen weiteren Auftrag: Sie sollen den anderen Facebook-Mitarbeitern zumindest die Grundlagen ihrer Disziplin beibringen. Die internen Fortbildungen, die sie nun schon seit einiger Zeit anbieten, sind stets nach wenigen Minuten ausgebucht. Manche Mitarbeiter schmuggeln sich heimlich hinein, obwohl sie keinen Platz bekommen haben.
Jahrzehntelang war künstliche Intelligenz nur ein Nischenfach an amerikanischen Universitäten. Das hat sich radikal geändert. Selbst die berühmten Eliteunis erleben gerade einen Braindrain, eine Abwanderung von Spitzenforschern, auf die sie nicht vorbereitet sind und gegen die sie noch kein Mittel gefunden haben. Google, Microsoft, Amazon, Facebook - all die großen, mächtigen IT-Konzerne kämpfen um die Vorherrschaft in künstlicher Intelligenz. Und das geht nur mit den passenden Mitarbeitern.
Apple hat seit 2014 die Zahl der KI-Experten mehr als verdoppelt. Facebook hat allein in den vergangenen Wochen drei der weltweit führenden Forscher eingestellt. Das Unternehmen braucht sie, um das soziale Netzwerk nach Hassbotschaften und Falschnachrichten zu durchsuchen - ohne dass je ein Mensch einen einzelnen Post anschauen muss.
So ist ein großer Wettlauf um die begehrtesten Talente entstanden, bei dem sich die Konzerne mit Gehaltsangeboten gegenseitig überbieten. Jeder versucht die wenigen Spezialisten, die es auf dem Markt gibt, abzufischen, bevor es die Konkurrenz tut. Universitäten können da längst nicht mehr mithalten. Das hat Folgen: An den Unis fehlen Professoren, die die nächste Generation der KI-Experten heranziehen könnten.
"Facebook handelt nicht umsichtig", sagt Oren Etzioni. Er gehört zu den weltweit prominentesten Forschern auf dem Gebiet und leitet das Allen Institute for Artificial Intelligence, ein gemeinnütziges Forschungsinstitut. "Sie haben ja als ihr Motto ausgerufen, dass sie schnell sein wollen und dabei ruhig Dinge kaputtgehen können", sagt Etzioni. Er glaubt, dass die Internetriesen gerade dabei sind, die Hochschullandschaft zu zerstören. Langfristig wird auch Facebook der Nachwuchs fehlen, da ist sich Etzioni sicher. Er sagt: "Es ist wirklich ziemlich dramatisch. Und der Trend wird sich eher noch beschleunigen als verlangsamen."
KI ist ein weites Feld - und längst in der Praxis angekommen: Von selbstfahrenden Autos über OP-Roboter bis zu Gesichtserkennungs-Software, die Polizisten einsetzen, um Sicherheitskamera-Videos nach Verdächtigen zu durchsuchen. Vom Militär, das versucht, per Computer Waffenlager auf Drohnenbildern zu finden über Chatbots, die als Psychotherapeuten arbeiten bis zum intelligenten Lautsprecher zu Hause, der den Wetterbericht vorträgt. KI ist längst Teil des Alltags.
Vereinfacht gesagt bedeutet KI, dass Maschinen und Systeme lernen, sich selbst zu verbessern und eigenständig zu handeln. Obwohl die Ideen hinter der Technik nicht neu sind und viele Algorithmen schon in den 60er-Jahren entwickelt wurden, hat künstliche Intelligenz erst vor Kurzem den Punkt erreicht, an dem sie für Unternehmen zum großen Geschäft geworden ist. Das liegt daran, dass die Silicon-Valley-Konzerne unter anderem durch das Internet und soziale Medien früher kaum vorstellbare Datenmengen angesammelt haben, ohne die KI nicht arbeiten kann. Gleichzeitig sind Computer heute so leistungsfähig, dass sie diese Datenberge endlich auch verarbeiten können. Die Recherchefirma Gartner prognostiziert bereits, dass KI bis 2020 in jede neue Software integriert ist.
Was oft vergessen wird: Hinter all den Erfindungen stehen noch immer Menschen, die sie entwickeln müssen - und die werden immer rarer. Universitäten und Unternehmen suchen weltweit Millionen KI-Experten. Derzeit gibt es aber nur rund 300 000, wie eine Recherchegruppe des chinesischen Internetriesen Tencent herausgefunden hat. Ein unabhängiges Forschungslabor namens Element AI geht laut New York Times davon aus, dass weltweit nur rund 22 000 Menschen so gut in KI ausgebildet sind, dass sie tatsächlich ernsthaft an Forschungsprojekten arbeiten können. Das seien zwar doppelt so viele wie im Vorjahr, aber längst nicht genug, heißt es. Trotz aller Hürden für KI - etwa der Angst der Menschen, dass Roboter ihnen die Jobs wegnehmen - steht der neuen Technik derzeit vor allem ein Problem im Weg: der Nachwuchsmangel.
"Angebot und Nachfrage klaffen auseinander, also geht der Preis hoch", sagt auch der Forscher Etzioni. Sogar junge Menschen, die gerade erst die Universität mit einem passenden Doktortitel verlassen oder solche, die nur ein paar Berufsjahre auf dem Buckel haben, bekommen in der freien Wirtschaft mittlerweile zwischen 300 000 und 500 000 Dollar. Bei erfahrenen KI-Experten sind es schnell mehrere Millionen.
Anthony Levandowski zum Beispiel, ein langjähriger Google-Ingenieur, erhielt allein 120 Millionen Dollar als Bonuszahlung. Selbst bei dem gemeinnützigen Forschungsinstitut OpenAI können die Forscher schwindelerregende Gehälter bekommen. Ilya Sutskever, der Top-Wissenschaftler des von Tesla-Gründer Elon Musk mitaufgebauten Vereins, bekam im Jahr 2016 1,9 Millionen Dollar.
Auch die Universitäten versuchen, ihre KI-Programme schnell auszubauen. Die Stanford Universität in Kalifornien bietet beispielsweise einen neuen Kurs zum Thema "Deep Learning" an, der innerhalb eines akademischen Jahres von null auf 800 Studenten angewachsen ist, wie der Informatikprofessor Andrew Ng bei Twitter verkündete. Doch die Lehrstühle schaffen es nicht, die Studentenzahlen schnell genug zu steigern. Dafür bräuchten sie all die Lehrer, die in die Industrie abgewandert sind.
Besonders die Universität Carnegie Mellon in Pittsburgh leidet unter dem Aderlass. Sie ist berühmt für ihr KI- und Roboter-Programm, doch allein die Taxi-App Uber hat dem Roboterzentrum der Eliteuni vor drei Jahren 40 Mitarbeiter abgeworben. Auch Facebook hat sich gerade wieder zwei Professoren für die neuen KI-Labore gesichert. Laut Medienberichten wechselte außerdem Manuela Veloso, Carnegie Mellons Leiterin für die Forschung zu maschinellem Lernen, zur Bank JPMorgan Chase.
Auch dort interessiert man sich inzwischen für künstliche Intelligenz. Es sind sowieso nicht mehr nur IT-Firmen, die um die wenigen KI-Experten buhlen. Autobauer brauchen sie für selbstfahrende Autos, Industrieunternehmen wie Siemens für automatisierte Fabriken, Agrarkonzerne für schlauere Saatmaschinen. Zu den großen Konzernen kommen Tausende KI-Start-ups, in die zuletzt viel Wagniskapital floss. Auch sie sind zum Teil in das große Wettbieten um die besten neuen Mitarbeiter eingestiegen.
Neben der Lehre leidet selbstverständlich auch die Forschung, wenn Professoren ihre Lehrstühle aufgeben. In der freien Wirtschaft verlagert sich meist auch der Forschungsschwerpunkt der Experten. Statt an Grundlagenthemen zu tüfteln, deren direkter Nutzen vielleicht über Jahre hinweg verborgen bleibt, aber grundlegende Durchbrüche bringt, arbeiten sie in der Industrie tendenziell eher an Produkten, mit denen sich schnell Geld verdienen lässt.
"Es stellt sich natürlich die Frage, in welchem Ausmaß Konzerne wie Google oder Facebook in Zukunft die Forschungsagenda bestimmen sollten", sagt Etzioni. Hoffnung macht ihm zumindest, dass einige wenige Top-Wissenschaftler so umkämpft sind, dass sie nebenher trotzdem an ihren Lieblingsthemen weiterarbeiten dürfen. Auch wenn das dem neuen Arbeitgeber nur indirekt nutzt. Ein Top-Name in den eigenen Reihen reicht schon aus, um zahlreiche neue Talente anzulocken.
"Heutzutage können Top-Universitäten die Absolventen mit den nötigen KI-Qualifikationen gar nicht schnell genug produzieren"
Etzioni hofft, dass die Unternehmen künftig mehr Einsicht zeigen und es allen Professoren erlauben, ihre Arbeitszeit frei aufzuteilen. Sie könnten dann zum Beispiel zur Hälfte weiter an den Universitäten lehren. Ein Modell, das sich angeblich die meisten Kollegen wünschen. Einerseits können sie so die hohen Gehälter in der freien Wirtschaft einstreichen und müssen keine Zeit mehr für aufwendige Fördermittelanträge verschwenden. Andererseits würden sie weiterhin gerne den Nachwuchs ausbilden. So viel Universitätsbegeisterung ist übrig geblieben.
Wahrscheinlich stoßen die Sillicon-Valley-Konzerne bald an eine natürliche Grenze: Sie können unmöglich alle KI-Experten von außen anheuern. Deshalb werden die Mitarbeiter nun verstärkt intern ausgebildet. Facebooks KI-Labore sind zum Vorbild für andere geworden, Google betreibt ähnliche Forschungszentren und auch das Karrierenetzwerk LinkedIn hat verkündet, ein internes Weiterbildungsprogramm namens "AI Academy" zu starten.
"Heutzutage können Top-Universitäten die Absolventen mit den nötigen KI-Qualifikationen gar nicht schnell genug produzieren", fasst es LinkedIn-Chefingenieur Craig Martell zusammen. Deshalb ist seine Firma zum Ausbilder für KI-Experten geworden. Auch wenn das mühsamer ist als die Talente woanders abzuwerben.
Der Wettlauf ist längst eine nationale Angelegenheit geworden. Jahrzehntelang lagen die USA vorne bei Forschung und Entwicklung zu KI. Die chinesische Regierung hat sich aber vorgenommen, dass die eigene KI-Industrie im Jahr 2030 150 Milliarden Dollar schwer und weltweit führend sein soll. Das ist dem Land Milliardeninvestitionen wert. Amerika will selbstverständlich dagegenhalten. Viele Experten kritisieren aber, dass sich Donald Trump zu sehr auf alte Industrien wie Stahl und Kohle konzentriert. Stattdessen fordern sie mehr Investitionen in KI, etwa als Unterstützung für Universitäten. Trumps Abschottungsrhetorik und die schärfere Visumvergabe hilft jedenfalls nicht, um ausländische Experten anzulocken.
Mehr chinesische Studenten kehren inzwischen nach einem Abschluss in den USA wieder in ihr Heimatland zurück. Die chinesischen Internetkonzerne Tencent und Alibaba warben im Februar bei einer großen KI-Konferenz in New Orleans offensiv um Uni-Absolventen. Google wiederum hat in diesem Frühjahr ein KI-Zentrum in Peking eingerichtet, um Talente in China zu rekrutieren. Auch in andere Länder haben die Tech-Konzerne ihre Fühler ausgestreckt.
Amazon zum Beispiel hat ein KI-Zentrum in der Nähe der Universität Cambridge in England und plant eine ähnliche Einrichtung in Barcelona. Auf Dauer wird das nicht reichen. "Wir müssen die KI-Forschung auf eine breitere Basis stellen, wenn wir zukunftsfähig bleiben wollen", sagt der Wissenschaftler Etzioni. Er denkt an noch mehr Menschen aus dem Ausland und an mehr Frauen. An den Geige spielenden Avatar von Facebook denkt er nicht.