Sexueller Missbrauch:"Die Kinder fühlen sich im Stich gelassen"

Susan Clancys Buch über sexuellen Missbrauch sorgte für Aufsehen. Zu ihrer Überraschung wird ihr nun vorgeworfen, die Straftat zu verharmlosen. Dabei sieht sie darin ein furchtbares Verbrechen.

Hubertus Breuer

Mitte der 1990er-Jahre begann Susan Clancy von der Harvard Universität Menschen zu interviewen, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren. Die Psychologin sprach mit Hunderten Opfern. Was sie entdeckte, widersprach ihrer Erwartung: Die Meinung in Fachkreisen war zuvor, dass die Erfahrungen fast immer traumatisch seien und gegen den Willen des Kindes stattgefunden hätten.

Missbrauch

Über sexuellen Missbrauch weiterforschen möchte Clancy nicht. "Es hat mir zu viel Kummer, Ärger und schlaflose Nächte bereitet", sagt die Psychologin.

(Foto: Photocase)

Die zentrale Aussage ihrer Forschung: Missbrauch ist in der Regel nicht dann traumatisierend, wenn er stattfindet, sondern führt oft erst später zu psychischen Problemen. Ihr jüngst erschienenes Buch "The Trauma Myth" (Basic Books, 2010) hat in den USA eine intensive Debatte ausgelöst. Die New York Times und das Fachblatt Science lobten das Buch, etliche Leser reagierten empört. Im Gespräch erklärt die Psychologin, inzwischen Direktorin des mit Harvard assoziierten "Center for Women's Advancement, Development and Leadership" in Nicaragua, ihre Befunde.

SZ: Auf der Amazon-Webseite Ihres Buches, "The Trauma Myth", schreibt ein Leser, dass Sie Sexualstraftätern zurufen: "Nur zu, missbraucht Kinder, sie mögen es, es wird sie nicht traumatisieren."

Susan Clancy: Das erzeugt in mir nur Brechreiz. Ich habe so etwas nie geschrieben, geschweige denn nahegelegt.

SZ: Wie kommt er auf die Idee? Auch Psychotherapeuten und Psychiater haben Sie seit Veröffentlichung Ihres Buches heftig angegriffen.

Clancy: Wer behauptet, dass ich sexuellen Missbrauch von Kindern verharmlose, hat mein Buch nicht gelesen. Es ist ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Aber das Thema ist hoch emotional besetzt, sodass jeder Versuch, an einer Lehrmeinung zu rütteln, wie ein Sakrileg wirkt. Ich könnte Bände mit hasserfüllten E-Mails füllen, aber zum Glück auch mit dankbaren Briefen von Opfern.

SZ: Wo liegt in Ihren Augen das Problem?

Clancy: Das vorherrschende Verständnis in Fachkreisen ist geprägt von einer bestimmten Form des sexuellen Missbrauchs, den vor allem Psychologen und Psychiater zu sehen bekommen: Menschen, für die der Missbrauch mit Gewalt, körperlichen Schmerzen, Penetration, Drohungen und Schrecken einherging. Aber diese Fälle repräsentieren nur fünf Prozent allen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Wollen wir dieses Übel bekämpfen, müssen wir verstehen, wie all die anderen zu Opfern werden.

SZ: Haben Sie einen besseren Überblick als Psychiater und Therapeuten?

Clancy: Kognitive Psychologen wie ich, die sich mit Erinnerung und sexuellem Missbrauch beschäftigen, sprechen für Studien die Bevölkerung an, nicht nur klinische Fälle. Ich habe Anzeigen im Boston Globe geschaltet, um ein weites Spektrum von Opfern zu erreichen.

SZ: Und der Großteil hat den Missbrauch nicht als traumatisch erfahren?

Clancy: Ein Trauma ist objektiv lebensbedrohlich, wenn man beschossen wird, oder subjektive Erfahrungen macht, die ähnlich Angst, Schrecken, Hilflosigkeit hervorrufen. Das trifft auf die Mehrheit der Opfer sexuellen Missbrauchs nicht zu - es geht meist um Berührungen im Intimbereich, körperliche Befriedigung, Oralsex. Auch empfinden Kinder diese Erfahrung meist keineswegs als Schock. Das heißt aber nicht, dass der Missbrauch keine schwerwiegenden psychologischen Schäden nach sich ziehen kann - aber wenn, dann erst später. Darauf haben Forscher schon früher gelegentlich hingewiesen - sie wurden nur ignoriert.

SZ: Es ist provokant zu behaupten, sexueller Missbrauch sei für viele Kinder eher "verwirrend" als traumatisch.

Clancy: Das habe ich mir ja nicht ausgedacht! Das basiert auf meinen Forschungsdaten und großen Studien. Die meisten Kinder erleben Missbrauch als stressig, verwirrend, seltsam, und in einigen Fällen, was Sie überraschen mag, gefällt es ihnen sogar. Das erzählen einem die Opfer - man muss ihnen nur zuhören.

SZ: Wie soll das möglich sein?

Clancy: Es sind selten Fremde, die sich Kinder sexuell willfährig machen. Es sind Vertrauenspersonen: Verwandte, Familienfreunde, Klavierlehrer, Priester, Rabbis. Kinder wachsen damit auf, dass diese Erwachsenen Autoritätspersonen sind. Zudem genießen sie oft die Aufmerksamkeit, Komplimente und Geschenke. All das vor dem Hintergrund, dass Kinder vor dem zwölften Lebensjahr kein wirkliches Verständnis für Sexualität haben. Deshalb widersetzen sich die meisten dem Missbrauch nicht.

SZ: Aber Kinder ahnen doch oft, dass es verkehrt ist.

Clancy: Ja, aber sie wissen nicht, warum. Sie bemerken es, wenn der Täter ihnen sagt, sie sollten niemanden davon erzählen, oder darauf achtet, dass sie niemand beobachtet. Erst später, wenn sie Sexualität besser verstehen, erkennen sie, dass sie benutzt wurden.

SZ: Mit Ihrer ersten Studie wollten Sie herausfinden, ob es so etwas wie Verdrängung der Erinnerung an die Vorfälle gibt.

Clancy: In den 1990er-Jahren wurde debattiert, ob verdrängte Erinnerungen wieder abgerufen werden könnten. Damals meinten viele, sich an satanische Rituale neu zu erinnern. Wir konnten zeigen, dass dies für traumatische Erinnerungen unwahrscheinlich ist - Krieg oder Naturkatastrophen vergisst man nicht. Die Erinnerung kann sich mit der Zeit ändern, aber die Substanz bleibt. Erfahrungen wiederum, die nicht traumatisch waren, können vergessen werden - und lassen sich auffrischen. Aber dann war es eben kein traumatisches Erlebnis.

SZ: Glauben Sie nicht, Sie könnten Opfern schaden, indem Sie das Vorgefallene scheinbar bagatellisieren?

Clancy: Im Gegenteil. Das gegenwärtige Verständnis sexuellen Missbrauchs schadet den Opfern. Die meisten erkennen sich darin nicht wieder - und schweigen deshalb. 95 Prozent aller Fälle werden nie gemeldet. Von diesen erzählen 80 Prozent niemandem davon. Und wenn sie es ihrer Familie enthüllen, melden das nur zehn Prozent der Polizei. Diese Zahlen ähneln sich weltweit.

SZ: Was fühlen diese Kinder?

Clancy: Sie fühlen sich im Stich gelassen. Schlimmer: Weil viele den Missbrauch nicht als traumatisch erlebt haben, halten sie sich für schuldig, weil sie meinen, es zugelassen zu haben. Viele Menschen sagten zu mir: "Ich weiß nicht, ob ich mich für Ihre Studie eigne, weil ich es damals als nicht traumatisch empfand." Wir müssen diesen Opfern klar machen, dass sie keine Ausnahme sind.

SZ: Das klingt so, als wäre alles nur halb so schlimm.

Clancy: Jetzt mal halblang. Sexueller Missbrauch kann schwere psychische Schäden nach sich ziehen. Das tritt für die Meisten erst ein, wenn sie in der Lage sind, die Bedeutung des Vorgefallenen zu verstehen - also als Erwachsene. Dann empfinden viele Verrat, Schuld und Scham. Es kann ihr Selbstwertgefühl verändern, zu Albträumen, Problemen mit Intimität, Alkohol- und Drogenkonsum, Selbstverstümmelung oder Essstörungen führen. Der Missbrauch wirkt also meist verzögert und indirekt.

SZ: Die Symptome erinnern an posttraumatische Belastungsstörungen, die oft bei Soldaten oder Vergewaltigungsopfern vorkommen.

Clancy: Ja, aber es gab kein ursächliches Trauma. Folglich kann keine echte posttraumatische Belastungsstörung vorliegen. Als eine der Vertreterinnen der Trauma-Hypothese, Judith Herman von der Harvard Medical School, sich mit diesen Problemen konfrontiert sah, schlug sie vor, es in "Komplexe posttraumatische Belastungsstörung" umzubenennen. Das löst das Problem aber nicht.

SZ: Würden sich in einer Gesellschaft, in der sexueller Umgang mit Kindern akzeptiert wäre, die Kinder später im Leben noch missbraucht vorkommen?

Clancy: Sie meinen, wie im antiken Griechenland oder in Ländern, in denen Kinder als Sexgespielen dienen? Es ist immer ein Verbrechen. Kinder können sexuelle Handlungen nicht beurteilen. Deshalb können sie nicht einwilligen. Sie werden klar missbraucht, egal, was die gesellschaftlichen Konventionen sind.

SZ: Wenn Sie recht haben, wie erklärt sich die vorherrschende Meinung?

Clancy: Bis in die 1970er-Jahre hielt man sexuellen Missbrauch für selten. Man dachte gar, manche Kinder hätten Missbrauch durch ihr Verhalten provoziert. Dem wollten Feministinnen und andere eine neue Sicht entgegensetzen. Das gelang mit der Gleichsetzung des sexuellen Missbrauchs mit Vergehen wie Vergewaltigung. Hinzu kam, dass nach dem Vietnam-Krieg Trauma-Forschung stark gefördert würde. Das alles hat geholfen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Aber damit stand plötzlich ein kleiner Teil der sexuellen Missbrauchsfälle für das Ganze.

SZ: In Deutschland gibt es derzeit eine Debatte um Missbrauch und die Kirche.

Clancy: Jeder greift die katholische Kirche an - zu Recht. Aber was dort passiert, geschieht überall, in Schulen, Turnvereinen, vor allem in Familien; der Missbrauch ist allgegenwärtig. Dieselben Leute, die sich über die Kirche aufregen, decken womöglich Missbrauch in den eigenen vier Wänden. Statistiken zeigen: Eines von fünf Mädchen und einer von zehn Jungen werden als Kind sexuell missbraucht. Wenn wir Missbrauch verhindern wollen, müssen wir diese Realität anerkennen. Dazu gehört auch, dass über 90 Prozent der Täter Männer sind.

SZ: Das ist nun aber keine Neuigkeit.

Clancy: Ja, aber es gibt kaum Studien zur Täterpsychologie. In den USA bemüht sich eine Gruppe Männer mit derartigen Neigungen, ihre Veranlagung in die nächste Ausgabe des Handbuchs für psychische Störungen aufzunehmen. Niemand will sich eingehend damit befassen. Erschwerend kommt hinzu: Es gibt keine etablierten Therapiemethoden.

SZ: Werden Sie weiter über sexuellen Missbrauch arbeiten?

Clancy: Nein. Es hat mir zu viel Kummer, Ärger und schlaflose Nächte bereitet. Über zehn Jahre habe ich mir das Leid von Missbrauchsopfern angehört. Dann wurde ich von Kollegen attackiert. Jetzt habe ich ein Buch veröffentlicht, das in Science und der New York Times hoch gelobt wird - aber keine echte Debatte, geschweige denn ein Umdenken ausgelöst hat. Niemand will wissen, was sexueller Missbrauch wirklich ist - das Thema regt die Menschen zu sehr auf.

The Trauma Myth: The Truth about the Sexual Abuse of Children - And Its Aftermath

Basic Books

Sprache: Englisch

ISBN-10: 046501688X

ISBN-13: 978-0465016884

Preis: 21.99 Euro

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: