Sexualität:Lust aus dem Labor

Nachdem Viagra den Männern zu neuem Leistungsvermögen verholfen hat, werden nun Frauen als neue Zielgruppe der Pharmaindustrie entdeckt. Das Leiden am Sex ist zu einem lukrativen Geschäft geworden.

Werner Bartens

Männer haben nur eine einzige erogene Zone. Das zeigen schon ihre sexuellen Leiden. Ob Impotenz, vorzeitiger Samenerguss oder Dauererektion - alle betreffen den Penis.

Puppe Jamie

"Bin ich noch normal oder schon frigide?"

(Foto: Foto: Elena Dorfman)

Bei Frauen ist die Sache komplizierter. Da geht es um Lust und Laune, Begehren und Befriedigung, Ekstase und Erregung. Es ist wie im richtigen Leben: Mechanik und Hydraulik bei ihm - die fragile Balance zwischen Gefühl und Verstand bei ihr.

Jahrhundertelang war Sex des Teufels, zumindest der Wille zum Sex. Luxuria, die Wollust, galt als eine der sieben Todsünden, Unkeuschheit als Laster. Mittlerweile nehmen Wissenschaftler im Intimbereich Maß, stoppen Zeiten, ermitteln Häufigkeiten. Das verunsichert die Menschen und erschließt Ärzten, Therapeuten und Apothekern neue Kundenkreise.

Der erigierte Penis des deutschen Mannes ist durchschnittlich zwischen 15 und 16 Zentimeter lang - was, wenn einer zehn Zentimeter misst? Die Deutschen schlafen im Jahr im Mittel etwa 120-mal miteinander. Was läuft falsch, wenn ein Paar nur auf eine Koitusfrequenz von 50-mal jährlich kommt?

Fast die Hälfte der Frauen klagt einer US-Studie zufolge über sexuelle Störungen. Ist das schon krank, wenn sie eine Weile keine Lust hat? 79 Prozent der Männer und 65 Prozent der Frauen zwischen 70 und 80 sind gemäß einer britischen Untersuchung noch sexuell aktiv.

Was, wenn man als Senior nicht dazugehört und nicht mehr kann oder will? 30 Prozent aller heterosexuellen Paare haben angeblich gelegentlich Analverkehr, Zehn Prozent bevorzugen diese Variante sogar. Ist es schlimm, wenn man das nicht mag?

Sex im Kernspintomographen

Oft geht das Erkenntnisinteresse der Forscher über Umfragen hinaus: Ärzte aus dem niederländischen Groningen legten vor ein paar Jahren ein kopulierendes Paar in den Kernspintomographen, um den Neigungswinkel der Geschlechtsorgane zu bestimmen.

New Yorker Radiologen untersuchten in einem ähnlichen Gerät, welche Hirnregion aktiv wird, wenn frisch Verliebte ihren erotischen Fantasien freien Lauf lassen. Seit diesen bahnbrechenden Versuchen weiß man, dass der Penis - zumindest bei akrobatisch veranlagten Holländern - beim Akt die Form eines Bumerangs annimmt und dass eine besonders erogene Zone im Gehirn als "geschweifter Kern" bezeichnet wird.

Diese Forschungen sind nicht nur von anekdotischem Interesse. Gegen Ängste vorm Versagen und die Last mit der Lustlosigkeit hält die Pharma- und Medizingeräteindustrie längst ein Hilfsarsenal bereit. Sex - vielmehr: das Leiden am Sex - ist zu einem lukrativen Forschungsobjekt geworden.

Seit Alfred Kinsey sich von den Gallwespen ab- und den Menschen zuwandte und seine Umfragen über das Sexualverhalten des Mannes (1948) und der Frau (1953) offenlegte, gibt es kaum noch intime Geheimnisse. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine Gesundheitsindustrie rund um die Sexualität entstanden.

Lust aus dem Labor

Vorbei die Zeiten, in denen allein Walknochen, Stabprothesen, Vakuumpumpen und andere Folterinstrumente erschlafften Kerlen zur Stärkung der Manneskraft angeboten und die Frauen ganz vernachlässigt wurden. Der Arzneimittelkonzern Pfizer hat 1998 den "blauen Diamanten" Viagra auf den Markt gebracht, Eli Lilly und Glaxo-Smith-Kline folgten und entwickelten die Nachahmerpräparate Cialis und Levitra.

Mehr als drei Milliarden Euro Umsatz bringen die Erektionshelfer ihren Herstellern jährlich ein. Jetzt sind die Frauen dran. Denn die Gewinnspanne rund um die weibliche Sexualität könnte noch größer sein.

Edward Laumann, ein Soziologieprofessor aus Chicago, der Forschungsgelder vom Viagra-Hersteller Pfizer bezieht, hat 1999 behauptet, dass 31 Prozent der Männer an sexuellen Störungen leiden. Von den Frauen hielt er sogar 43 Prozent für sexuell gestört. Durch Laumanns Schätzung können sich viele Millionen Menschen krank fühlen: Männer mit gelegentlichen Erektionsproblemen halten sich für impotent. Frauen, die von der Sexualität mit ihrem Partner gelangweilt oder frustriert sind, fragen sich: Bin ich noch normal oder schon frigide?

Ein neues Syndrom, das die Lustlosigkeit der Frau zur Krankheit aufwertet und ein weites Feld für mögliche Therapien eröffnet, ist bereits gefunden - die HSDD. Das Akronym steht für den Begriff "Hypoactive Sexual Desire Disorder", kurz: nachlassende Lust. Andere Forscher benutzen für dieses Phänomen die Abkürzung FSD (Female Sexual Dysfunction).

Mittel zur Partnerschaftsoptimierung

Die Krankheitskriterien sind vage, auch wenn das Ausmaß der vermeintlichen Störung seit 2004 mit dem PFSF-Test bestimmt werden kann. PFSF bedeutet "Profile of Female Sexual Function" und erfasst die Parameter Begehren, Erregung, Orgasmus, Befriedigung, Empfindsamkeit, sexuelles Selbstbild sowie sexuelle Ängste und Bedenken.

Frauen sollen sich in diesen Punkten selbst einschätzen. Dabei gibt es keinen Wert, von dem an etwas als krank gilt, doch welche Frau wird schon von sich behaupten, dass sie in allen Bereichen zufrieden ist? Da sich in der Sexualität aber kaum jemand mit Mittelmaß begnügt, erforscht die Pharmaindustrie etliche Mittel zur Partnerschaftsoptimierung.

Pfizer hatte nach dem Erfolg bei den Männern Viagra auch an Frauen getestet. Der Potenzhelfer ließ zwar auch in die weiblichen Genitalorgane mehr Blut strömen, doch dadurch bekamen die Frauen nicht automatisch mehr Lust. Trotzdem erprobt die Firma Vivus aus dem kalifornischen Mountain View die gefäßerweiternde Substanz Alprostadil, die auf die weiblichen Genitalien aufgetragen wird. Wenn sich dann der Blutfluss dort vergrößert und die Gleitfähigkeit zunimmt, sollen sich Frauen schneller erregt fühlen.

Nasenspray, Pflaster, Cremes und Pillen sollen Lust steigern

Boehringer Ingelheim testet das Medikament Flibanserin, das als Antidepressivum keine Zulassung erhielt und nun die Begierde steigern soll. Das Pharmaunternehmen Palatin Technologies aus New Jersey setzt auf das Nasenspray PT-141, das die Melanocortin-Rezeptoren im Gehirn stimuliert und so Frauen mehr Lust auf die Lust verschaffen soll. Und weltweit ermitteln Forscher mit Kernspinaufnahmen, welche Hirnregionen den Höhepunkt erleben, wenn Frauen zum Orgasmus kommen.

Pflaster, Cremes und Salben mit Testosteron sind die Klassiker, um der libidinösen Flaute der Frau abzuhelfen. Denn auch bei Frauen strömt das Männlichkeitshormon durch die Adern, wenn auch in erheblich niedrigerer Konzentration als bei ihm. Da die körpereigene Produktion des Testosterons nach den Wechseljahren nachlässt, gilt es als weibliche Lustbarkeitsdroge und wird auf die Haut, intravaginal oder zum Schlucken verabreicht.

Erst im Juli 2005 bewies eine Untersuchung im Fachblatt Journal of the American Medical Association allerdings, dass niedrige Konzentrationen der Sexualhormone nichts mit verminderter Lust zu tun haben. Doch obwohl eine positive Wirkung auf die Libido nie nachgewiesen werden konnte, verschreiben amerikanische Ärzte jedes Jahr millionenfach Testosteron-Präparate.

Ähnlich populär ist die "Wunderdroge" Dehydroepiandrosteron, kurz DHEA, ein Hormon aus der Nebenniere. Mediziner der Würzburger Universitätsklinik hatten 1999 entdeckt, dass Frauen, die an einem krankhaften Hormonmangel litten, während einer Behandlung mit DHEA wieder deutlich bessere Laune und mehr Lust bekamen. Doch die behandelten Frauen waren krank, ihre Nebennierenrinde funktionierte nicht richtig. "Es nützt nichts, wenn ein Mann seiner gesunden Frau heimlich DHEA in den Tee tut und hofft, dass sie dadurch scharf wird", kommentierte Bruno Allolio, Hormonexperte aus Würzburg und Leiter der Untersuchung, seinerzeit die Ergebnisse.

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