Sesshaft dank Saufen:Am Anfang war die Party

Dem Biologen Josef H. Reichholf zufolge war die Sesshaftigkeit des Menschen nicht in der Fleisch-Knappheit begründet - sondern im kollektiven Besäufnis.

Johan Schloemann

Von dieser Theorie könnte man besoffen werden. Denn vereinfacht geht sie so: Der Ackerbau und damit die Sesshaftigkeit und damit die Höfe, Dörfer und Städte und damit die ganze menschliche Kultur sind nicht entstanden, weil einst das Fleisch knapp geworden war, sondern weil es im Gegenteil Fleisch von wilden Tieren im Überfluss gab.

Sesshaft dank Saufen: Am Anfang war das Oktoberfest.

Am Anfang war das Oktoberfest.

(Foto: Foto: ddp)

Also haben sich die Menschen in der Nacheiszeit, die grob vor 12.000 Jahren begann, zu gemeinschaftlichen Fleisch-Gelagen verabredet. Der Ertrag des wilden, noch nicht gezüchteten Getreides reichte auch gar nicht aus, um sie hinreichend zu ernähren. Aber diese frühen Menschen hatten, nach dem Vorbild überreifer Beeren und Früchte, die Gärung entdeckt: Sie rührten die Getreidekörner zu einem alkoholischen Gebräu an und erkannten dessen berauschende Wirkung.

Der erste Zweck des Getreides, das erst in der Folge zu einer effektiven Nahrungsquelle kultiviert wurde, war ein frühes Bier, das aus dem Fleisch-Fest ein kultisches Begängnis machte. Oder in noch kürzerer Fassung, und je nach Präferenz: Am Anfang war die Dinner-Party. Am Anfang war das Oktoberfest.

Widerspruch zu geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung

Der Schöpfer des geselligen Szenarios aber ist, obschon ein Bayer, aus ganz nüchternen Überlegungen zu diesem Modell gekommen. Es widerspricht den geläufigen Erklärungen der Kulturentstehung fundamental und müsste, wenn man ihm folgt, die Forschungen über unsere Evolution und Prähistorie, einschließlich der Religionsgeschichte, in eine ganz neue Richtung lenken.

Es ist der bekannte Naturhistoriker und Ökologe Josef H. Reichholf, der diese Theorie aufstellt, in seinem soeben erschienenen Buch "Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte" (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2008, 315 Seiten, 19,90 Euro).

Reichholf hatte zuletzt im vergangenen Jahr mit seiner "Kurzen Geschichte des letzten Jahrtausends" für Aufsehen gesorgt und den Preis der Darmstädter Akademie für wissenschaftliche Prosa erhalten. Schritt für Schritt, und ohne erkennbaren Einfluss von Genussstoffen, nähert er sich nun anhand von erd- und klimageschichtlichen, botanischen, zoologischen und humanevolutionären Beobachtungen seinem dionysischen Befund.

Wechsel von der Pflanzenkost zum Fleisch

Da sind zunächst die anthropologischen Grundlagen. Heute bedroht bekanntlich der nicht endende Fleischhunger der wachsenden Menschheit sowohl die unbewirtschaftete Natur als auch die Ernährung der Armen.

Dieser Fleischhunger hat tiefe Wurzeln: Wir begegnen unserem Vorfahren, der vor sechs bis sieben Millionen Jahren mit aufrechtem Gang in die Savanne trat und sich zu einem exzellenten Jäger entwickelte.

Er wechselte, so zeichnet Reichholf das Bild, von der Pflanzenkost des Urwalds zum Fleisch; er ist im Ergebnis eine einzigartige Kombination aus Sprinter und Dauerläufer, denn der schwach behaarte, nackte Mensch hat nicht nur einen schnellen Antritt, sondern durchs Schwitzen auch die beste nur vorstellbare Kühlung und kann dadurch lange Distanzen rasch überwinden; und er erfindet das Jagen mit Waffen aus der Ferne, weshalb er anderen Raubtieren überlegen ist.

Evolutionär entscheidend ist der Fortpflanzungserfolg, die menschentypische "Erhöhung der Zahl der Kinder und Verlängerung der Betreuungsdauer des Nachwuchses". So wird auch das Gruppenleben durch die Versorgung der Mütter gestärkt.

Dafür aber, gerade auch für die Entwicklung des großen Gehirns, brauchten die Mütter und Kinder der Frühzeit vorrangig Proteine. Also Fleisch. Das galt erst recht, als der Homo erectus aus Afrika in die nördlichen Eiszeitgebiete wanderte; immerhin hat er es rund anderthalb Millionen Jahre dort, außerhalb seiner warmen tropischen Heimat, ausgehalten.

Durch die eiskalten Winter können damals, wie Reichholf vorrechnet, nur Tierfelle und Fleischvorräte gerettet haben; Pflanzen, Beeren, Pilze waren bloß ein schwaches Zubrot und halfen allenfalls über kleinere Versorgungslücken. Die "Jäger und Sammler" waren, in existenzieller Hinsicht: Jäger.

Vor rund 70.000 Jahren wanderten die ersten Menschen unserer Art im engeren Sinne aus Afrika nach Vorderasien. Später dann, nach dem Rückzug des Eises, setzt Josef Reichholf eine Parallele zu dem früheren Szenario in Afrika an: Auf dem Weg hin zur landwirtschaftlichen Sesshaftigkeit, die zuerst im sogenannten Fruchtbaren Halbmond nachweisbar ist, habe wieder das Fleisch die zentrale Rolle gespielt und das Pflanzenreich zunächst nur als Supplement gedient.

Vor der Versteppung der Sahara um 2500 vor Christus gab es demnach eine wildreiche Savanne, die sich über die Arabische Halbinsel erstreckte, über Mesopotamien und die Gebiete Persiens, die heute Wüste oder Halbwüste sind.

Für die gängige Hypothese eines akuten Mangels an Jagdwild, der, kombiniert mit Bevölkerungsdruck, den menschlichen Ackerbau erzwungen haben müsse, sieht Reichholf keinerlei Belege.

Am Anfang war die Party

"Warum sollte ausgerechnet dort, wo die passenden Wildpflanzen wuchsen, aus denen Getreide werden konnte, das Wild so selten geworden sein?" Denn: "Wo gutes Gras wächst, sammelt sich auch das Wild." Es sei auch prinzipiell falsch, "Fortschritte" des Menschen immer nur durch Ressourcenknappheit und Existenzangst zu begründen.

Dann kam die Fleischparty

Vielmehr stehe am Beginn der schrittweisen Domestikation der Überfluss an Tieren: Man begann - natürlicherweise nur, weil es genug davon gab -, die Tiere nicht gleich aufzuessen, sondern mit der Zeit die Wildformen von Schafen, Rindern und Ziegen als "lebende Fleischreserve" zu fangen und zu halten. "Zähmung und Züchtung", so Reichholf, "erfolgten nicht der Not gehorchend."

Und dann kam die Fleischparty. Jene beginnende Vorratswirtschaft in einer noch wesentlich nomadischen Kultur habe sich gewissermaßen in kollektiven Feiermahlzeiten entladen.

Josef Reichholf verweist hier auf Funde wie die erst unlängst entdeckte, bisher älteste menschliche Kultstätte von Göbleki Tepe in Anatolien, die mindestens 12.000 Jahre alt ist; dort finden sich Reliefs von Wildtieren. Und solche Kultereignisse seien eben auch große Besäufnisse gewesen, für die das Getreide ursprünglich verwendet worden sei.

In der Tat hängen ja Rausch und religiöse Transzendenz in vielen Kulturen zusammen; für die Exstase zuständige Priester oder Schamanen kennen sich mit Zauberformeln, Geheimsprache und halluzinogenen Pilzen aus - oder, wie in diesem kulturentscheidenen Fall, mit dem Rezept fürs Bier.

Auf frühen sumerischen Darstellungen sieht man Menschen feierlich mit Strohhalmen aus Tonkrügen trinken, das würde zum ungefilterten Bierbrei der Frühzeit passen; ähnliche Praktiken sollen durch Wanderungen über die Beringstraße bis zu den südamerikanischen Indios gelangt sein, wo das "Chicha"-Bier in Amazonien durch Spucke zum Gären gebracht wird.

Die Aborigines sind hingegen vor mindestens 40.000 Jahren nach Australien gelangt und haben nicht nur keine Nutzpflanzen oder -tiere entwickelt, sondern auch nicht die geringste Alkoholverträglichkeit.

Erst das Bier, dann davon ausgehend das planmäßig angebaute Getreide, dann erst die Sesshaftigkeit (und Städte und Kriege und so weiter) - das ist Josef Reichholfs spektakulärer neuer Vorschlag für den Ursprung der "neolithischen Revolution", den er mit atemberaubendem Überblick über die Wissensfelder und zugleich großer geistiger Unabhängigkeit erreicht, und das in vorbildlich zugänglicher Sprache.

Es wird, es muss Einwände geben: Die Erklärung könnte zu monokausal sein. Die Religionsgeschichte kann Zweifel an der These anmelden, ob mythische Welten, ob Götter und Geister tatsächlich erst, wie Reichholf andeutet, durch den Rausch entstanden sind, sowie die Berücksichtigung der diversen Theorien des Opfers einfordern, die bei Reichholf fehlen.

Auch die von ihm verwendete Verknüpfung von Genetik und Sprachfamilien (nach L.L. Cavalli-Sforza) ist höchst umstritten. Aber Josef Reichholfs Theorie ist ein genialer Denkanstoß, der das berührt, was noch in jedem von uns stecken mag. Prost.

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