Süddeutsche Zeitung

Serie: Mythen von Monstern (Teil 3):Lust auf Menschenfleisch

Eine riesige Spinne vertreibt in England eine ganze Familie aus dem Heim und tötet auch noch ihren Hund. Sie ist ein alter Bekannter aus dem Irak.

Markus C. Schulte von Drach

Manche Monster sind nicht nur faszinierend, weil wir uns so sehr vor ihnen gruseln. Einige Mythen zeichnen sich vor allem durch die Hartnäckigkeit aus, mit der sie sich halten.

Das gilt auch für den Mythos der Riesenspinne, über die im Herbst vergangenen Jahres britische Medien berichteten. Eine ganze Familie ist vor dem Tier aus ihrem Haus in Essex geflüchtet, nachdem es angeblich ihren Hund getötet hatte.

Monsterfans kennen Gerüchte über das Ungeheuer seit dem Golfkrieg Anfang der neunziger Jahre. Berühmt machten es schließlich US-Soldaten nach dem Einmarsch in den Irak 2003.

Sie stellten ein Foto der offenbar gigantischen irakischen Spinnen ins Internet und beschrieben ihre Erfahrungen mit den Tieren: So rennen die Spinnen mit einer Geschwindigkeit von 25 Kilometern in der Stunde durch die Wüste und stoßen dabei Schreie aus. Zu ihrer Beute gehören Kamele, denen sie an den Bauch springen, um ihnen ein Betäubungsgift zu injizieren und sie dann anzufressen.

Riesenspinnen im Schlafsack

Außerdem warnten sie im Web, die Spinnen würden in die Schlafsäcke kriechen, um das Gleiche mit den schlafenden Soldaten zu tun. Bezeichnet wurden die Tiere als Kamelspinnen.

Und nun berichtete Frau Lorraine Griffiths aus Colchester, Essex, ihre Söhne hätten eine solche Monsterspinne in ihrem Haus entdeckt. Auch Bella, ihr Hund, hätte die Kamelspinne gestellt. Das tapfere Tier habe allerdings jaulend die Flucht ergriffen, als es von der Spinne angezischt wurde, erzählte Griffiths der Presse.

Bald darauf war ihr Haustier gestorben. Der Tierarzt habe die Todesursache nicht bestimmen können. Anhand von Fotos im Internet identifizierte Frau Griffith den unerwünschten Besucher schließlich als Kamelspinne.

Wo aber war die Riesenspinne hergekommen? Lorraines Mann war als Soldat der britischen Armee in Afghanistan im Einsatz. Er hat ihrer Meinung nach das Tier mit seinem Gepäck aus der Provinz Helmand mitgebracht - ohne es zu bemerken. Rodney Griffiths ist inzwischen wieder in Afghanistan. Die Spinne ist geblieben.

Und das Schreckgespenst Kamelspinne ist auferstanden. Wieder wird in Internetforen diskutiert, welche furchtbaren Eigenschaften die Tiere besitzen. Wieder melden sich Zeugen, die jemanden kennen, der selbst gesehen hat . . .

Aber was ist nun dran? Zuerst einmal gibt es tatsächlich Tiere mit dem Namen Kamelspinnen (Galeodes arabs). Sie gehören zur Ordnung der Walzenspinnen (Solifugae) - und sind demnach keine echten Spinnen. Sie werden auch als Wind- oder Sonnenskorpione oder auch Sonnenspinnen bezeichnet.

Sämtliche Namen beziehen sich vermutlich auf ihr Auftreten in der Wüste, nicht darauf, dass sie Kamele angreifen. Das tun sie nicht. Diese Behauptung ist, wie die meisten Horrorgeschichten über die Tiere, Blödsinn. Verschiedene Arten der Walzenspinnen kommen in den meisten Wüsten der Erde vor - auch in Nordamerika. Lediglich in Australien kennt man sie nicht.

Der Körper der Kamelspinnen - auch der Tiere im Irak und in Afghanistan - wird bis zu sechs Zentimeter lang. Die Beine können allerdings bis zu 15 Zentimeter lang werden, so dass die Tiere ziemlich groß wirken. Das Foto der Kamelspinne im Irak, welches die Tiere berühmt-berüchtigt gemacht hat, vermittelt jedoch einen völlig falschen Eindruck. Hier sind zwei Tiere untereinander zu sehen, die dicht vor die Kamera gehalten wurden.

Kamelspinnen fressen Insekten, aber auch Eidechsen und kleine Vögel. Ihre Beute zerbeißen sie mit ihren kräftigen Kiefern. Sie springen sie allerdings nicht auf eine größere Distanz an, sondern packen sie, wenn sie in Reichweite ihrer vorderen Extremitäten kommen.

Völlig unsinnig ist die Behauptung, dass Walzenspinnen schreien. Und sie kommen auf eine Geschwindigkeit von vielleicht 15 Kilometern pro Stunde - was schnell ist für eine Spinne. Aber ein Mensch schafft das auch. Gift, das sie ihren Opfern injizieren könnten, produzieren Walzenspinnen nicht. Es gibt lediglich eine Art in Indien, von der einige Forscher vermuten, dass sie Giftdrüsen besitzt.

Die Tiere sind nachtaktiv und versuchen tagsüber, sich im Schatten aufzuhalten. Die Zelte und Baracken der Soldaten im Irak und in Afghanistan sind für sie deshalb attraktiv. Auch versuchen sie angeblich sogar, im Schatten von Menschen zu bleiben, denen sie begegnen. Geht die Person weiter, folgt die Spinne. Das kann natürlich wie eine Verfolgung aussehen.

Fachleute gehen davon aus, dass die Tiere sich lediglich wehren, wenn sie sich durch Menschen bedroht fühlen. Ein Biss mit ihren großen Kauwerkzeugen, den Cheliceren, führt zu relativ großen Wunden, die sich entzünden können. Das US-Verteidigungsministerium rät den Soldaten deshalb, sie sollten "nur mit festem Schuhwerk zu Duschen und Latrinen gehen, nicht mit Flip-Flops oder Sandalen."

Die europäischen und amerikanischen Soldaten machen sich allerdings offenbar recht häufig einen Spaß daraus, Kamelspinnen zu fangen und zu filmen, wie man zum Beispiel bei YouTube sehen kann. Kein Wunder, dass es immer wieder zu Bisswunden kommt.

Sollte Rodney Griffiths tatsächlich versehentlich eine Kamelspinne mit nach Essex gebracht haben - wobei man sich schon fragen muss, wie er dieses Tier beim Packen übersehen konnte - dann hat seine Familie ein für England zwar ungewöhnliches, aber eigentlich harmloses neues Haustier. Lässt man die Spinne in Ruhe, tut sie einem nichts.

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