Serie: 200 Jahre Darwin (23):Wühltisch der Urzeitforscher

Versteinerungen erlauben erstaunliche Einblicke in die Geschichte des Lebens - wie vor kurzem Fossil Ida. Doch die vielfältigsten und bizarrsten Beispiele früher Kreaturen finden sich im kanadischen Burgess-Schiefer.

Axel Bojanowski

Ein Pferd brachte die Wissenschaft auf die Spur einer ihrer größten Entdeckungen. Es war vor 100 Jahren, am 31.August 1909. Der Naturforscher Charles Doolittle Walcott ritt mit seiner Frau über den Burgess-Pass in den kanadischen Rocky Mountains.

Serie: 200 Jahre Darwin (23): Aufregende Funde: Versteinerungen wie das bei Darmstadt gefundene Fossil Ida geben erstaunliche Einblicke in die Geschichte des Lebens auf der Erde.

Aufregende Funde: Versteinerungen wie das bei Darmstadt gefundene Fossil Ida geben erstaunliche Einblicke in die Geschichte des Lebens auf der Erde.

(Foto: Foto: dpa)

Das Pferd der Frau, so wurde berichtet, glitt auf dem Schotter aus. Walcott stieg ab, um das gestürzte Tier aufzurichten. Da fiel im eine Schieferplatte auf, die das Pferd beim Straucheln umgedreht hatte. Dieser Moment sollte die Paläontologie - die Wissenschaft des Urzeitlebens - revolutionieren und wichtige Beweise für Darwins Evolutionstheorie liefern. Auf dem Schiefer erblickte Walcott die versteinerten Abdrücke eines Kleintieres.

Der Autodidakt und leidenschaftliche Forscher aus Utica im US-Staat New York wäre am liebsten gleich dortgeblieben, um sämtliche Platten umzudrehen. Doch das schlechte Wetter trieb ihn nach Hause. Zuvor hatte Walcott auf einer Landkarte noch den Ort markiert.

Natürlich ahnte er nicht, dass er die größte Schatzkammer des Urzeitlebens entdeckt hatte. An einen interessanten Fund glaubte er aber wohl. Und so kehrte Walcott im folgenden Frühjahr zurück. Der Schotter auf dem Weg stammte von einem Felssturz. Er folgte den Spuren der Lawine fast bis hinauf zum Berggipfel. In 2400 Metern Höhe stand er vor einer Flanke aus Schiefergestein von der Größe einer Reihenhaus-Zeile.

Silbrig schimmerten die Abdrücke unzähliger Lebewesen im schwarzen Fels. Wie ein steinernes Buch des Lebens hatte der Berg eines der interessantesten Kapitel der Erdgeschichte konserviert: die sogenannte Kambrische Explosion vor gut 500 Millionen Jahren.

Es war gleichsam der "Urknall" des Lebens auf der Erde: Damals waren binnen weniger Millionen Jahre fast alle Körper-Baupläne der Tiere entstanden. In den 3,5 Milliarden Jahren zuvor war die Erde ein öder Planet gewesen. Lediglich Bakterien und - viel später - simple Schleimorganismen hatten die Flachmeere bevölkert. Im Kambrium entstanden plötzlich höhere Lebensformen.

Eine unberechenbare Welt

Ohne die Entdeckung des Burgess-Schiefers wäre diese entscheidende Epoche der Evolution im Dunklen geblieben. "Es war, als ob ein Bühnenvorhang mit einem Ruck aufgerissen wurde und mitten in der Handlung des ersten Aktes den Blick freigab", sagt der Paläontologe Richard Fortey vom Naturhistorischen Museum in London.

Niemals wieder wurde eine ähnlich reiche Fossilien-Stätte von solch immenser wissenschaftlicher Bedeutung gefunden. Die Vielfalt der Formen erstaunt Wissenschaftler bis heute; 140 Arten wurden gezählt. Erst der Blick in den Burgess-Schiefer habe gezeigt, "wie viel reicher die Welt einst war und wie viel weniger berechenbar", schwärmt Fortey.

Walcott hämmerte etwa 70.000 Abdrücke von Urzeitwesen aus dem Schiefer. Die ersten sandte er an Museen in aller Welt. "Er hatte Sorge, die Fachwelt könnte an seiner aufregenden Entdeckung zweifeln", sagt Richard Fortey.

Auch bei der Namensgebung ging Walcott auf Nummer sicher: Vielen Fossilien gab er Namen bedeutender Paläontologen. Den Spitzenkrebs Marrella etwa benannte er nach Johnny Marr, seinerzeit die höchste Instanz der britischen Urzeitforschung.

Die Burgess-Region lag im frühen Kambrium vor gut 500 Millionen Jahren in einem Flachmeer, in dem sich zig Lebewesen tummelten. Ihnen wurde der Zusammenbruch einer Klippe zum Verhängnis: Der Schutt begrub Abertausende Tiere am Meeresboden - und schuf damit ein Massengrab für die Ewigkeit. Zufälle führten dazu, dass die Stätte erhalten blieb.

Kadaver, die in sauerstofflosem Milieu die normale Zersetzung überdauern, werden meist durch Erosion endgültig beseitigt. Stetig schmirgeln Wind und Wasser die Erdkruste. Im Burgess-Schiefer aber sorgten seltene chemische Prozesse dafür, dass ein stabiler Zement die Abdrücke ausfüllte; tief im Berg blieben sie erhalten.

Das Leben in den Ozeanen sei heute weitaus weniger vielgestaltig als in jenem Flachmeer-Gebiet des Burgess-Schiefers, staunte der berühmte Geologe Stephen Jay Gould, der 2002 gestorben ist. Das Sortiment an Wassertieren "hätte jeden Fischhändler glücklich gemacht", witzelt Richard Fortey.

Eine bizarre Welt

Es war eine bizarre Welt. Ein Gliederfüßer namens Anomalocaris canadensis etwa ähnelte einem Mini-Weihnachtsbaum mit Geweih auf der Spitze. Das Krabbeltier Opabinia hatte fünf Augen und einen Rüssel mit Klauen an der Öffnung. Hallicugenia scheint auf sieben Stelzen über den Meeresboden gewankt zu sein. Und Odontogriphus - eine Art Fladen - wirke wie ein "überfahrenes Tier", meinen selbst Paläontologen.

Ein schlankes, nacktschneckenähnliches Geschöpf namens Pikaia gracilens indes flößt den Forschern mehr Ehrfurcht ein. Es soll eine primitive Wirbelsäule besessen haben, und war somit wohl der Vorfahr aller Wirbeltiere - einschließlich des Menschen.

Unten breit, oben schmal

Hätte es je Menschen gegeben, wenn Pikaia gracilens sich während der Kambrischen Explosion nicht behauptet hätte? Nein, meinte Stephen Jay Gould. Die Entstehung des Menschen hinge - wie die Evolution aller Lebewesen - vor allem vom Zufall ab, schrieb er in seinem berühmten Buch "Zufall Mensch", das 1989 erschien. Er löste damit eine heftige Debatte über die Entwicklung des Lebens aus.

Gould zufolge war die Entstehung der Arten weitgehend eine Lotterie. Würde das "Band des Lebens" bis in die Zeit des Burgess-Schiefer "zurückgespult und erneut gestartet", schrieb er, wäre die Chance, dass sich wiederum menschliche Intelligenz entwickelte "verschwindend gering".

Gould habe dem Stammbaum des Lebens sozusagen neue Gestalt gegeben, erläutert Richard Fortey. Zuvor habe man sich die Evolution als "eine Art Busch" vorgestellt, der sich seitlich und nach oben verzweigte. Die Vielfalt der Tierarten im Burgess-Schiefer indes bewog Gould zu dem Schluss, die Entwicklung des Lebens ähnelte einem Baum, der unten breit ist und sich nach oben verjüngt.

Das Leben sei eine "Geschichte des Sterbens", gefolgt von der "Spezialisierung weniger Überlebender", schrieb Gould. Andere Experten hingegen widersprachen: Katastrophen hätten keinen so großen Einfluss, die Evolution verlaufe gleichmäßiger, meinten sie.

Ärger aus der Fossilienkiste

Dieser Ansicht war auch Charles Doolittle Walcott. Die meisten Sommerferien bis zu seinem Tod 1927 verbrachte er am Burgess-Schiefer. Seine wissenschaftlichen Arbeiten füllten schließlich ein ganzes Bücherregal.

Nach seinem Tod jedoch verschwanden die Burgess-Fossilien für 45 Jahre in den Schränken des Amerikanischen Museums für Naturgeschichte in Washington. Erst in den 1970er Jahren wagten sich die britischen Paläontologen Simon Conway Morris, Harry Whittington und Derek Briggs an eine Revision.

Von da an wandelte sich Walcotts "Triumph zur Niederlage" - so beschrieb es jedenfalls Stephen Jay Gould. Bereits bei einer ersten Durchsicht der Sammlung wunderte sich Conway Morris. Walcott hatte die Fossilien aus dem Burgess-Schiefer sämtlich heute lebenden Arten zugeordnet.

Doch Morris erkannte, dass die meisten Tiere aus dem Burgess-Schiefer keine modernen Nachfahren haben. Walcott hatte seine Funde "damit so falsch interpretiert, wie es überhaupt nur möglich war", schrieb Gould. Die Lebewesen hätten sich nach Walcotts Ansicht einfach immer weiter entwickelt, "mit vorhersagbarer Zwangsläufigkeit", lästerte Gould.

Zwar rüffelten andere Forscher Gould für seine Attacke. Die neuen Interpretationen wichen weniger drastisch von denen Walcotts ab als Gould behauptet hätte. Walcotts Irrtum aber war nicht zu übersehen.

Als Simon Conway Morris mal wieder eine neue Fossilienkiste öffnete, soll er irgendwann sogar entkräftet geschimpft haben: "Verdammt, nicht schon wieder ein neuer Stamm!" Stämme bilden die oberste Unterteilung des Tierreichs. Die Fehldeutungen schmälerten Walcotts Ruhm als einer der größten Entdecker der Wissenschaft aber kaum. Seine Fundstätte am Burgess-Pass gehört längst zum Unesco-Naturerbe der Menschheit.

In der Umgebung haben Wissenschaftler mittlerweile weitere Steinbrüche aufgemacht, wo sie bis heute nach Fossilien suchen. 150.000 Exemplare lagern allein im Royal Ontario Museum in Kanada. Und noch immer bringen Paläontologen mehr Fossilien aus dem Burgess-Gebiet, als überhaupt untersucht werden können.

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