Serie: 200 Jahre Darwin (11):"Evolution denkt nicht in Arten"

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Die Art ist ein Standardbegriff der Biologie - doch selbst Charles Darwin hat sich um eine Definition gedrückt. Forscher streiten bis heute über die Frage: Was ist eine Spezies?

Hanno Charisius

Zwei Krähenstämme haben Europa unter sich aufgeteilt, die Elbe bildet den Grenzfluss: Östlich lebt die graue Nebelkrähe, westlich die Rabenkrähe mit dem blau-schwarz schimmernden Gefieder. Sie wollen voneinander nichts wissen.

Westlich oder östlich der Elbe: Krähen wissen genau, ob sie es mit ihrem eigenen Stamm zu tun haben. (Foto: Foto: iStock)

Jedes Kind würde in ihnen zwei verschiedene Vogelarten erkennen. Für Biologen ist die Sache komplizierter. Schließlich unterscheiden sich die Gene der beiden Vögel kaum. Die Forscher streiten darum, ob ein unterschiedliches Federkleid sowie ein anderer Wohnort genügen, um aus einer Tierart zwei zu machen.

Britische Taxonomen haben kürzlich beiden den Artstatus verliehen. Andere Forscher sprechen vorsichtiger von Unterarten. Im Zentrum des Konflikts steht die Frage: Was ist eigentlich eine Art?

Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, hat zwar sein Hauptwerk "Von der Entstehung der Arten" genannt, um eine Definition des Begriffs hat er sich aber zeitlebens gedrückt. Seither stellt sich jeder Biologiestudent in den Einführungsveranstaltungen dieser Frage - "und jeder scheitert", sagt Diethard Tautz, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Biologie in Plön.

Wenn man so unterschiedliche Lebewesen wie Bakterien, Wirbeltiere und Pflanzen gleichzeitig berücksichtigen wolle, sei es "schlicht unmöglich, alle Aspekte in einem einzigen Konzept zu vereinen. Das haben schon viele sehr gescheite Leute vergeblich versucht."

Klare Abgrenzung schwierig

Im Zoo erscheint die Antwort auf die Artenfrage leicht: Man liest einfach ab, was auf den Schildern steht. Meist sind es zwei lateinische Begriffe wie Pan troglodytes (Schimpanse) oder Ailuropoda melanoleuca (Großer Panda). Der Mensch hat den Tieren diese Namen gegeben und sie in Kategorien eingeteilt.

Dieses Schubladendenken dient seinen Zwecken, es kann lebensrettend sein. Wer einmal gelernt hat, dass ein Säbelzahntiger gefährlich ist, kann das Wissen leicht auf Löwen übertragen. Umgekehrt ist es wichtig, Tollkirschen von Heidelbeeren unterscheiden zu können. Nur die Natur hält sich nicht an diese Vorstellung.

"Die Evolution denkt nicht in Arten", sagt Susanne Verbarg, die in der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen in Braunschweig für die Identifikation neuer Bakterienarten zuständig ist. Der Artbegriff stammt aus einer Zeit, als die Naturforscher noch überzeugt waren, dass Gott die Lebewesen einzeln erschaffen hat und die Arten unveränderlich seien.

Dann kam Darwin und brachte diese Gedankenwelt durcheinander, indem er postulierte, dass jede Art aus einer anderen hervorgegangen sei. Seitdem klar ist, dass die Artbildung ein kontinuierlicher und kein sprunghafter Prozess ist, wird eine klare Abgrenzung verwandter Spezies immer schwieriger.

"Ich sehe in einer Art eher so etwas wie eine Wolke, weniger eine starre Einheit", sagt Verbarg. Je schärfer die Biologen mit ihren molekulargenetischen Methoden hinschauen können, desto verschwommener wird der Artbegriff.

Dabei schien es eine Zeit lang so, als hätte der berühmte deutsche Evolutionsbiologe Ernst Mayr, der an der Harvard University lehrte, eine Definition geliefert, die keiner weiteren Diskussion bedurfte: 1942 beschrieb er in seinem wohl bedeutsamsten Buch "Systematik und die Herkunft der Arten" eine Art als eine Gruppe von Lebewesen, die miteinander Nachkommen zeugen können, die nicht steril sind - anders als etwa die gemeinsamen Fohlen von Pferden und Eseln.

Zuvor war eine Art eher nach äußerlichen Merkmalen definiert worden, Mayr erhob "reproduktive Isolation" zum entscheidenden Kriterium. Demnach bilden sich neue Arten dann, wenn eine Gruppe von Tieren etwa durch Berge oder auf Inseln von anderen getrennt ist.

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:Evolution im Zeitraffer

Mayrs Erklärung hatte ihre Tücken. Sie ließ all jene Lebewesen außen vor, die sich ohne Sex fortpflanzen können: Selbstbefruchter etwa oder Bakterien, die sich durch Zellteilung vermehren. Verbarg kann in ihrem Braunschweiger Labor jedoch 7000 bis 8000 Bakterienarten unterscheiden.

"Wahrscheinlich gibt es Millionen", sagt sie, "nur lassen die sich heute noch nicht als solche identifizieren." Um dennoch Ordnung in das Mikrobenreich zu bringen, haben sich die Mikrobiologen auf eine Definition geeinigt: "Alle Bakterien mit mehr als 70 Prozent genetischer Übereinstimmung fassen wir als eine Art auf", sagt Verbarg.

Verstörende genetische Ähnlichkeit

Würde man dieses Kriterium auf die Säugetiere anwenden, gehörten Menschen und Schweine zu einer Spezies. Und bei den Elbkrähen kämen beide Artbegriffe ins Hinken. Die grauen und die schwarzen Vögel können durchaus gemeinsame Nachfahren zeugen, sie versuchen es nur möglichst zu vermeiden.

Die verstörende genetische Ähnlichkeit der Krähen rechts und links der Elbe misst jetzt der Verhaltensforscher Jochen Wolf aus. Als Gastwissenschaftler an der schwedischen Universität Uppsala geht er der Frage nach, warum sich die Vögel nicht mischen, obwohl nichts sie daran hindert.

Womöglich spielt eine Vorliebe der Vögel für das Aussehen des Sexualpartners eine Rolle. Eine universell brauchbare Definition des Artbegriffs bleibt auch Wolf schuldig. "Das ist die alte philosophische Frage: Gibt es fließende Übergänge zwischen Arten oder sind es abgrenzbare Einheiten?"

Wer die Laubsänger betrachtet, die rund um das Himalaja-Massiv leben, muss als Antwort geben: Beides ist richtig. Vor sehr langer Zeit machten sich ein paar dieser Singvögel im östlichen Teil Sibiriens auf den Weg und zogen gen Süden. Sie siedelten, und ihre Nachkommen zogen weiter und weiter gegen den Uhrzeigersinn um das tibetanische Hochplateau herum.

Nach einigen Millionen Jahren stießen die Nachfahren der Aussiedler auf die Nachkommen der Daheimgebliebenen. In der Zwischenzeit hatten sich die beiden Gruppen so weit entfremdet, dass sie heute ihre Lockgesänge nicht mehr verstehen.

Die Laubsängersippen in den übrigen benachbarten Regionen verstehen sich jedoch noch immer prächtig. Irgendwann erreichen die fließenden Übergänge zwischen den einzelnen Gruppen also die Schwelle, wo die Vögel nicht mehr zusammenpassen.

Innovative Lurche

"Die Entstehung einer Art ist erst abgeschlossen, wenn es keinen Genfluss mehr zu einer verwandten Gruppe von Lebewesen gibt", sagt der Evolutionsgenetiker Diethard Tautz und gibt damit eine sehr offene Definition des Artbegriffs.

Gerade am Anfang dieser Entwicklung steht offenbar eine Gruppe von Feuersalamandern im Kottenforst am Rand der Eifel. Dort leben zwei Lurchsippen. Die eine laicht in Bächen, so wie es all die anderen Feuersalamander in der Eifel tun, die andere bevorzugt neuerdings stehende Gewässer.

Seit mehr als sieben Jahren beobachtet Sebastian Steinfartz von der Universität Bielefeld die innovativen Lurche bei ihrem "ersten Schritt zu einer neuen Art". Äußerlich sind Vertreter der Gruppen kaum zu unterscheiden, in ihrem Erbgut hat Steinfartz bereits Unterschiede gefunden. "Wir können der Evolution bei der Arbeit zuschauen."

Die Frage nach einer Definition des Artbegriffs schiebt der Evolutionsgenetiker beiseite: "Jeder hat da eine Erklärung, die zu den Organismen passt, mit denen er gerade arbeitet. Die Debatte bringt nicht viel." Man könne Arten als Zwischenergebnisse im evolutionären Geschehen betrachten.

Verschiedene Definitionen

Steinfartz interessiert sich mehr für die treibenden Kräfte dieser Entwicklungen. Wie erkennen die Tümpellaicher einander, damit sie sich nicht versehentlich mit einem Bach-Salamander paaren? Und warum überhaupt bevorzugt die eine Gruppe plötzlich Tümpel und Pfützen als Laichplatz? Ein Vorteil muss die Gefahr ausgleichen, dass die Gewässer im Sommer austrocknen und die Salamanderbrut gleich mit.

Angesichts der Definitionsprobleme ist kaum verwunderlich, dass die Schätzungen über die Gesamtzahl der Arten um einen Faktor 80 schwanken: zwischen 1,5 und 120 Millionen. "Die Zählenden haben jeweils ihre eigenen Vorstellungen davon, was eine Art ist", erklärt Tautz die Bandbreite.

Über 30 verschiedene Konzepte wurden in der Fachliteratur diskutiert, regelmäßig kommen neue hinzu. Die Grenzen zwischen ihnen sind oft genauso fließend wie zwischen benachbarten Laubsängerarten. "Es kann gar kein alles integrierendes Konzept geben", sagt Tautz.

Zu unterschiedlich seien die Anforderungen in den verschiedenen Bereichen der Lebenswissenschaften. Entscheidend bei der Auswahl ist immer der Zweck. "Aber mit vier oder fünf Definitionen sollten wir eigentlich auskommen."

© SZ vom 31.03.2009/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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