Serie: 200 Jahre Darwin (4):Dicke Hörner und schiefe Mäuler

Evolution im Zeitraffer: Tiere und Pflanzen können sich viel schneller verändern als Charles Darwin annahm.

Tina Baier

Als der Vogelzugexperte Peter Berthold Evolution zum ersten Mal live erlebte, war es eine erschreckende Erfahrung. In den 1980er-Jahren erreichte den Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Ornithologie eine Meldung aus England: Dort waren plötzlich viele seiner Forschungsobjekte, kleine Singvögel der Art Mönchsgrasmücke, aufgetaucht.

"Das war im ersten Moment ein schreckliches Erlebnis", sagt Berthold. "Nach damaligem Verständnis hätte es diese Vögel in England nicht geben dürfen." Statt in Portugal, Spanien oder Nordafrika zu überwinterten, waren die Tiere nordwärts auf die britische Insel gezogen.

Kurz zuvor hatte der Wissenschaftler gezeigt, dass die Zugrichtung der Mönchsgrasmücken im Erbgut festgelegt ist, sich also nicht von einem Jahr zum nächsten verändern kann. Die Mönchsgrasmücken in England schienen dieses Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit auf einen Schlag zunichte zu machen. Doch schließlich fand Berthold die Erklärung: Evolution im Zeitraffer.

Charles Darwin, der in seinem Buch "Die Entstehung der Arten" vor 150 Jahren die Evolutionstheorie begründete, hatte seinerzeit angenommen, dass die Prozesse von Mutation und Selektion sehr langsam ablaufen. Jahrtausende oder sogar Jahrmillionen sollte es dauern, wenn sich neue Arten bilden (Makroevolution) oder sich existierende Spezies in Aussehen oder Verhalten verändern (Mikroevolution).

Der Klimawandel zeigt den Biologen von heute dagegen Evolution direkt vor ihren Augen. Als Zeugen eines unfreiwilligen Großexperiments mit dem Planeten Erde beobachten sie mit Staunen, wie sich Tiere und Pflanzen an die schnelle Veränderung der Umwelt ebenso rasant anpassen.

Engländer dank Klimawandel

So war es auch bei Bertholds Mönchsgrasmücken: Schon immer gab es einzelne Exemplare, die aufgrund einer zufälligen Veränderung im Erbgut nach England flogen. Lange Zeit bezahlten die Abweichler ihren Irrweg mit dem Leben: Sie erfroren im kalten englischen Winter. Doch dann kam der Klimawandel, und die Winter in England wurden milder. Seitdem überleben sie und haben dazu noch eine Menge Vorteile gegenüber den Vögeln, die weiterhin ans Mittelmeer ziehen.

Ihre Zugstrecke ist um ein Drittel kürzer, und während die vielen Mönchsgrasmücken im Mittelmeerraum um ihr Futter streiten müssen, sitzen ihre Artgenossen in England in den gutgefüllten Vogelhäusern der tierlieben Briten.

Im Frühjahr kehren die Tiere aus England als erste zurück und können so die besten Brutplätze besetzen. Meist paaren sie sich untereinander, weil ihre Artgenossen aus dem Süden noch nicht zurück sind. Der Nachwuchs ist dann ebenfalls auf das Winterlager England programmiert. Das könnte schließlich sogar zur Entstehung einer neuen Art führen.

"Evolution ist wie Lottospielen", sagt Manfred Milinski vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön. Die Wahrscheinlichkeit, sechs Nummern und die Superzahl richtig zu tippen, beträgt nur eins zu 140 Millionen. Trotzdem gibt es regelmäßig Lottogewinner. Ähnlich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist es, dass eine zufällig vorhandene Eigenschaft, die die Artgenossen nicht besitzen, für ein Lebewesen zum entscheidenden Vorteil wird, wenn sich die äußeren Bedingungen ändern.

Dicke Hörner und schiefe Mäuler

Läuft Evolution schnell ab, dann stehen die betroffenen Lebewesen meist unter starkem Selektionsdruck. Individuen mit einem günstigen Merkmal haben einen großen Vorteil gegenüber ihren Artgenossen. Oft ist es der Mensch, der einen derart starken Druck macht: Kanadische Dickhornschafe beispielsweise trugen ihren Namen noch vor dreißig Jahren zu Recht.

Doch seit Trophäenjäger gezielt große Böcke mit prächtigen Hörnern abschießen, haben mickrigere Exemplare plötzlich einen Überlebensvorteil. Sie bekommen Nachkommen, denen sie ihre Gene weitergeben. Als Folge sind Dickhornschafe in den vergangenen Jahrzehnten um ein Fünftel geschrumpft und haben nur noch kleine Hörner.

Elefanten ohne Stoßzähne

Ähnliches gilt für chinesische Elefantenbullen, von denen inzwischen etwa zehn Prozent ohne Stoßzähne zur Welt kommen - ein perfekter Schutz vor Elfenbeinjägern. Der Kabeljau ist in den vergangenen Jahrzehnten kleiner geworden, weil kleine Fische bessere Chancen haben, durch die Netze der Fangflotten zu rutschen. Zudem wird er schneller geschlechtsreif - und hat so die Möglichkeit, noch schnell Nachwuchs zu bekommen, bevor er gefangen wird.

Doch auch ohne den Einfluss des Menschen gibt es Evolution im Zeitraffer. Am besten untersucht sind die Darwinfinken auf Galapagos, deren Schnabelgröße von Jahr zu Jahr variieren kann. In trockenen Jahren sind die Samen, von denen sich die Vögel ernähren, sehr hart. Die meisten Finken mit kleinen Schnäbeln können sie nicht knacken und verhungern.

Vögel mit großen Schnäbeln können die Samen hingegen öffnen. Sie überleben und zeugen Nachkommen, die ebenfalls große Schnäbel haben, so dass der Anteil der Vögel mit großem Schnabel zunimmt. In feuchten Jahren mit vielen weichen Samen haben dagegen Finken mit kleinen Schnäbeln einen Vorteil.

Ein anderes Beispiel sind Strandschnecken in Neuengland, die es innerhalb von 15 Jahren geschafft haben, ihr Haus zu verstärken. Ihr ärgster Feind, die Gemeine Strandkrabbe, kann es kaum noch knacken. Und wenn Guppys auf der Insel Trinidad in gefährliche Gewässer geraten, wo Buntbarsche lauern, ändert sich ihr Aussehen.

Aus auffällig gemusterten Angebern, deren Ziel es ist, viele Weibchen anzulocken, werden innerhalb von 15 Generationen unauffällige Fische, die sich kaum vom Grund abheben. Ihre Vorfahren hatten die Attacken der Räuber öfter überlebt als die bunten Artgenossen.

Dass auch ganz neue Arten in kurzer Zeit entstehen können, beweisen die Buntbarsche, von denen es weltweit etwa 3000 Spezies gibt. Allein im ostafrikanischen Viktoriasee leben 500 bis 600 Buntbarsch-Arten. Sie sind sehr nah miteinander verwandt - zum Teil näher als zwei Menschen aus verschiedenen Ländern, hat der Evolutionsbiologe Axel Meyer von der Universität Konstanz entdeckt.

"Linksraspler" und "Rechtssraspler"

Um im Gedränge zu überleben, haben sie sich spezialisiert. So gibt es eine Art, die mit ihrem asymmetrisch geformten Kiefer anderen Fischen die Schuppen vom Leib raspelt, um sie zu fressen. Dabei gibt es "Linksraspler" und "Rechtssraspler", die mit unterschiedlich schiefen Mäulern die linke oder die rechte Seite ihrer Opfer angreifen.

"Diese Artenvielfalt ist in 100.000 Jahren entstanden", sagt Meyer. "Das ist Makroevolution in Rekordzeit." Wie das abgelaufen sein könnte, erforscht Meyer zurzeit an Barschen aus jungen Kraterseen in Nicaragua. Einer dieser Seen soll erst vor 200 Jahren entstanden sein, die anderen sind bis zu 8000 Jahre alt.

Die Entstehung neuer Arten aber lief in den verschiedenen Seen, die keinerlei Kontakt zueinander haben, stets nach dem gleichen Muster ab. "Die Evolution wiederholt sich", sagt Meyer. "Zuerst entsteht immer eine langgestreckte Barsch-Art, die im offenen Wasser lebt, dann entwickelt sich eine Art mit plumperem Körper, die sich vor allem im tiefen Wasser zwischen den Steinen am Grund aufhält, und schließlich eine, die in Ufernähe zwischen den Steinen Nahrung sucht."

Dicke Hörner und schiefe Mäuler

Meyers Buntbarsche gehören offensichtlich zu den Tieren, die sich besonders schnell weiterentwickeln und in neue Arten aufspalten. Im Viktoriasee leben auch Karpfenähnliche, Welse oder Salmler, die aber längst nicht so artenreich sind wie die Buntbarsche.

Ähnlich ist es auf Galapagos: Fast zeitgleich mit den Darwinfinken kamen dort die Spottdrosseln an. Bis heute gibt es aber nur vier verschiedene Arten von Spottdrosseln, denen 14 Finkenarten gegenüberstehen.

Was das Besondere an den artenreichen Tierfamilien ist, ist noch nicht ganz klar. Einen Evolutionsschub hat für die Buntbarsche möglicherweise die Entstehung eines zweiten Kiefers aus dem fünften Kiemenbogen ausgelöst. Mit diesem Kiefer konnten sie sich neue Nahrungsquellen erschließen - sie knacken zum Beispiel Schnecken.

Inzwischen versuchen viele Wissenschaftler, die genetischen Grundlagen des Wandels zu entschlüsseln. Die ersten Ergebnisse bestätigen, dass Evolution viel schneller abläuft, als man lange Zeit gedacht hat.

Diethard Tautz vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön beispielsweise sucht im Erbgut der Hausmaus nach Genen, die innerhalb der vergangenen Jahrzehnte an Evolutionsprozessen beteiligt waren. "Im Schnitt kommt es bei der Maus mindestens alle 50 Jahre zu einem neuen Anpassungsereignis, wahrscheinlich sogar noch öfter", sagt Tautz.

Kleine Veränderungen - große Folgen

Klar ist mittlerweile auch, dass kleine Veränderungen im Erbgut große Folgen haben können. "Grundsätzlich kann eine einzige Veränderung in einem einzigen Gen aus einer Libelle mit vier Flügeln eine Fliege mit nur zwei machen", sagt Axel Meyer.

Ein beeindruckendes Beispiel sind die Gauklerblumen. Die Rote Gauklerblume wird von Kolibris befruchtet, die Rosa Gauklerblume von Hummeln. Veränderungen in einem einzigen Gen verändern die Farbe der Blüten und damit auch die Tierart, von der die Blumen bevorzugt besucht werden, haben zwei amerikanische Biologen erkannt.

Auch die Schnabellänge der Galapagos-Finken hängt im wesentlichen von einem einzigen Gen ab, das BMP4 genannt wird. Finken mit langem Schnabel haben viele Kopien dieses Gens, Finken mit kurzem dagegen nur wenige.

Auch die Evolution des Menschen ist längst noch nicht abgeschlossen. Zwar ist er weit davon entfernt, sich in neue Arten aufzuspalten, doch haben immerhin sieben Prozent seines Erbguts in den vergangenen 10.000 Jahren eine schnelle Evolution mitgemacht. Die wichtigsten Antriebskräfte waren wahrscheinlich neben der Besiedelung neuer Lebensräume, die Erfindung der Landwirtschaft und der bis heute andauernde Kampf gegen die unterschiedlichen Krankheitserreger.

"Nordeuropäer entwickelten erst mit Beginn der Viehwirtschaft die Fähigkeit, den Milchzucker Laktose auch noch als Erwachsene zu verdauen", sagt Mark Stoneking vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

Ebenfalls eine relativ neue Erfindung ist die angeborene Immunität einiger Afrikaner gegen Malaria. Auch eine Variante des Gens CCR5, die vor einer Infektion mit dem Aids-Erreger schützt, breitet sich in der europäischen Bevölkerung aus. Der Vorteil ist offensichtlich.

Rätselhaft ist den Evolutionsbiologen dagegen, warum neuerdings immer mehr Menschen eine Gen-Variante in ihrem Erbgut haben, die das Haar dicker macht. Am plausibelsten scheint den meisten diese Erklärung zu sein: Menschen mit dicken Haaren sind attraktiver, finden daher leichter einen Partner und bekommen mehr Kinder - ein klassisches Beispiel für Evolution.

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