Serie: Bio bizzar (1):Sex, Inzest und Kannibalismus

Lesezeit: 3 Min.

Sie sind mikroskopisch klein und leben nur vier Tage. Doch einige Milben zeigen in dieser Zeit ein so extremes Fortpflanzungsverhalten, dass man es kaum glauben mag.

Markus C. Schulte von Drach

Wer meint, das Liebesleben des Menschen sei kompliziert und münde allzu häufig in einen grausamen Krieg der Geschlechter, sollte sich einmal unter unseren eher unscheinbaren Mitbewohnern auf dem Planeten Erde umsehen. Sex, brutale Gewalt, Inzest und, ja, vorgeburtlicher Geschlechtsverkehr sind da zu beobachten.

Eine Milbe der Familie Acarophenax, aufgenommen mit einem Elektronenmikroskop der Universidade Federal de Viçosa, Brasilien. (Foto: Foto: Leda Rita Faroni)

Und es gibt sogar eine Gruppe mikroskopisch kleiner Krabbeltiere, in der alle diese Verhaltensweisen zusammen auftreten - die Milben der Familie Acarophenacidae.

Zu dieser Gruppe gehören die Gattungen Adactylidium und Acarophenax. Die Weibchen dieser bemerkenswerten Spinnentiere suchen sich Eier von sogenannten Fransenflüglern, auch Blasenfüßer oder Gewittertierchen genannt, saugen sich daran fest und nutzen sie hinfort als Nahrungsquelle.

Die Mama wird gefressen

Aus Eiern in ihrem Körperinnern schlüpfen innerhalb von zwei Tagen je nach Gattung bis zu acht oder fünfzehn Töchter - und ein einziger Sohn. Dann beginnt ein Prozess, der nach menschlichen Maßstäben äußerst unappetitlich ist. Die Jungen beginnen, ihre Mutter von innen heraus aufzufressen.

Nach zwei Tagen, noch immer im Leib der Mutter - oder dem, was davon übrig ist - kopuliert das männliche Tier mit allen seinen Schwestern. Dann bohren sich die Jungen durch die Hülle der Mutter, suchen nun selbst das Ei eines Gewittertierchens - und der Zyklus beginnt von Neuem.

Während die Männchen der Gattung Adactylidium noch schlüpfen, kurze Zeit auf der Welt wandeln und dann sterben, ereilt ihre Geschlechtsgenossen der Gattung Acarophenax der Tod noch im Körper der Mama.

Angesichts dieser nach unseren ethischen Grundsätzen mehr als fragwürdigen Verhaltensweisen forderte Tony Seybert vor einiger Zeit in seinem satirischen Blog Mushtown Media Corp. schon bereits ein Eingreifen der US-Regierung.

"Wenn Adactylidium nicht gebessert werden kann, wenn die Milben stur an diesen ekelerregenden, heidnischen Praktiken festhalten, müssen sie ausgerottet werden, um die heterosexuelle Ehe zu schützen, die nur zwischen einem männlichen und weiblichen Adactylidium geschlossen werden darf, die keine Geschwister sind und die ihre Mutter nicht aufgefressen haben!"

Die Milben, hier ein Vertreter von Adactylidium, haben die wohl kürzeste Jugend der Welt. (Foto: Arturo Goldarazena/Neiker-Tecnalia, Spanien)

In was für einer Welt leben wir, fragte Seybert, in der eine ungezügelte "Mutter Natur" solche Dinge zulässt?

Eindrucksvolle Ausnahme von der Regel

Abgesehen davon, dass die Verhaltensweisen der Milben uns als bizzar und gruselig erscheinen, bieten sie ein wunderbares Beispiel dafür, wie eine Ausnahme die Regel bestätigt: Jene Regel, die besagt, dass bei Tieren mit geschlechtlicher Fortpflanzung das Verhältnis zwischen Männchen und Weibchen etwa eins zu eins ist.

Tatsächlich ist es so, dass männliche Tiere im Prinzip unzählige Nachkommen zeugen könnten, während Weibchen nur eine begrenzte Zahl von Eiern produzieren. Ein Männchen ist demnach prinzipiell in der Lage, etliche Weibchen zu befruchten. Warum also gibt es dann in den jeweiligen Populationen nicht viel mehr weibliche als männliche Tiere?

In einer Population, wo solche Verhältnisse herrschen, hat jedes einzelne Männchen aufgrund des Weibchenüberschusses sehr gute Chancen, auf mehrere Partnerinnen zu stoßen. Je weniger männliche Tiere es gibt, umso größer ist sogar ihr individueller Fortpflanzungserfolg. Die Weibchen dagegen machen sich Konkurrenz und sind dem Risiko ausgesetzt, auf keines der seltenen Männchen zu treffen.

Eltern wollen nun eine möglichst große Zahl von Nachkommen - also Kinder, Enkel, Ur-Enkel und so weiter - produzieren. Aus der Sicht der Väter wie der Mütter wären Söhne unter diesen Umständen ein Reproduktionsvorteil gegenüber Töchtern.

Doch das funktioniert nur kurzfristig. Über mehrere Generationen würde aufgrund dieses Vorteils die Zahl der Männchen zunehmen - bis die Zeit der einsamen Paschas vorüber und der ursprüngliche Vorteil der männlichen Tiere aufgehoben wäre. Deshalb pendelt sich das Verhältnis der Geschlechter bei den meisten Tierarten bei ungefähr eins zu eins ein.

Ein einziger Sohn genügt

Für die Milben aber spielt der Vor- oder Nachteil der Geschlechter keine Rolle, denn sie haben eine strenge Inzucht entwickelt. Es paaren sich ausschließlich Söhne und Töchter einer Mutter, so dass es den Tieren gewissermaßen egal sein kann, wie viele männliche und weibliche Tiere in der Population existieren. Benötigt wird zur geschlechtlichen Fortpflanzung exakt ein einziger Sohn.

Aufgrund des weiteren Lebenswandels der Tiere ist die Funktion des Männchens nach dem Geschlechtsakt im Mutterleib zudem erfüllt. Er wird nicht mehr benötigt ... und stirbt, bevor es das Leben noch genießen kann. Dabei "tut das Männchen von Acarophenax für sein Fortleben in der Evolution genauso viel wie Abraham, der bis in sein hundertstes Jahr Kinder zeugte", wie es der Evolutionsbiologe Steven Jay Gould einmal formuliert hat.

Die Tiere sind demnach ein eindrucksvolles Beispiel für das, worum es in der Natur im Großen und Ganzen offenbar geht: Nicht um das Leben selbst, sondern darum, am großen Staffellauf teilzunehmen, bei dem die Gene der Stab sind, der von einer Generation an die nächste weitergegeben wird.

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