Süddeutsche Zeitung

Serie: Bio bizarr (9):Triumph der Transvestiten

Bei manchen Tierarten tarnen sich die Männchen als Weibchen - und tricksen damit ihre Macho-Konkurrenz erfolgreich aus.

Markus C. Schulte von Drach

Erfreut begrüßt das Männchen, ein kräftig gebauter Blauer Sonnenbarsch (Lepomis macrochirus), das kleine Weibchen, das sich seinem Revier im kanadischen Lake Opinicon nähert.

Es ist schon die zweite Partnerin, die der Fisch heute anlocken konnte. Zu erkennen ist das Geschlecht seiner Partnerin an der helleren Farbe der Streifen, die die Seiten der ovalen, schlanken Fische mehr oder weniger deutlich schmücken.

Das Weibchen schwimmt hinunter zum Nest, das der Revierbesitzer am Boden des Flusses angelegt hat. Doch dann tut es etwas, mit dem das Männchen nicht gerechnet hat. Statt abzulaichen . . . besamt es die Eier, die ein anderes Weibchen dort zuvor bereits abgelegt hat - und sucht das Weite.

Bei dem Besuch handelte es sich nämlich mitnichten um ein weibliches Tier, sondern um ein Männchen im Damenkleid.

Der Betrug ist kein Einzelfall

Und der Betrug ist kein Einzelfall. Tatsächlich findet man bei den Blauen Sonnenbarschen zwei sehr unterschiedliche Fortpflanzungsstrategien der männlichen Tiere. Zum einen gibt es die Typen, die mit etwa sieben Jahren geschlechtsreif sind, sich ein Revier erkämpfen, dort ein Nest bauen und versuchen, Weibchen anzulocken. Danach kümmern sie sich um Eier und Jungtiere.

Und dann gibt es die Kuckucks-Männchen. Diese Tiere sind bereits mit zwei Jahren bereit zur Fortpflanzung - und sehen aus wie Weibchen. Doch anders als ihre Geschlechtsgenossen kümmern sie sich nicht um den Nachwuchs. Stattdessen folgen sie echten Weibchen ins Revier der Konkurrenz, um deren Eier noch vor dem Platzhirschen zu besamen. Die Weibchen bekommen dann für ihren Nachwuchs nicht den gewünschten Vater, und der gefoppte Revierbesitzer zieht auch noch Jungen auf, die gar nicht mit ihm verwandt sind.

Genauso wenig, wie die Kuckucks-Männchen unter den Blauen Sonnenbarschen Einzelfälle sind, ist diese "Transvestiten-Strategie" ein Einzelfall im Tierreich.

Balzende Lichtorgeln

Eine ähnliche Strategie verfolgen zum Beispiel manche Männchen der Riesensepien (Sepia apama). Diese rotbraun gefärbten, 60 Zentimeter langen Kopffüßler, die in den Gewässern vor der australischen Küste leben, zeigen ein beeindruckendes Balzverhalten. Um die Weibchen zu betören, verwandeln sich die Männchen in eine Art Lichtorgel, indem sie bunte Farbmuster auf ihrer Haut pulsieren lassen.

Willige Weibchen reagieren mit einem ähnlichen Lichtspiel, bis es schließlich zur Paarung kommt. Immer wieder aber werden die männlichen Tiere von Konkurrenten abgelenkt, die sie mit Gewalt vertreiben.

In diesem Augenblick schlägt die Stunde der Transvestiten. Kleinere Männchen, ohne Chance, dem großen Rivalen die Braut abspenstig zu machen, imitieren in Form und Farbe die Weibchen und halten sich in der Nähe des Paars auf. Nun schleichen sie sich heran, packen das echte Weibchen und übertragen ihre Spermienkapseln in die dafür vorgesehene Tasche des Weibchens.

Kehrt das große Männchen zurück, spielt der kleine Schwerenöter wieder das unschuldige Weibchen und verschwindet, als wäre nichts geschehen.

Der Vorteil der Betrüger liegt auf der Hand. Die falschen Sonnenbarsch-Weibchen vermeiden es, mit Konkurrenten um Reviere zu streiten, Weibchen anzulocken und dann auch noch die Jungen aufzuziehen - alles anstrengende und fordernde Beschäftigungen. Und die kleinen Riesensepien hätten im ehrlichen Männerkleid ja keine Chance gegen ihre großen Artgenossen.

Warum aber kommt dieses Verhalten dann nicht häufiger vor? Weshalb nimmt der Anteil der männlichen Tiere, die solche billigen und erfolgreichen Strategien nutzen, in ihren Populationen nicht deutlich zu?

Ein Grund dafür ist offenbar, dass Weibchen in der Regel die Betrüger nicht leiden können. Sie bevorzugen meist den kräftigen Revierbesitzer, den geschickten Jäger oder den Papa, der am meisten in den Nachwuchs zu investieren bereit ist.

Und würde zum Beispiel die Zahl der Sonnenbarsch-Transvestiten erheblich zunehmen, wer würde die Nester bauen, die Weibchen in Stimmung bringen und schließlich die Jungen aufziehen? Verzweifelt würden sich die Betrüger gegenseitig umschwimmen, in der Hoffnung, die Nachbarin sei echt und finde vielleicht sogar einen richtigen Kerl.

Das Zusammenspiel der verschiedenen Strategien innerhalb einer Population lässt sich besonders anschaulich am Beispiel der Seitenfleckleguane (Uta stansburiana) zeigen. Diese etwa sechs Zentimeter langen Eidechsen leben in Kalifornien. Die Männchen versuchen, Weibchen zu beeindrucken, in dem sie ihnen ihre bunten Kehlen präsentieren.

Wie Barry Sinervo von der University of California in Santa Cruz und Jean Clobert vom Centre National de la Recherche Scientifique in Paris festgestellt haben, existieren drei Typen von Männchen, die sich äußerlich, in ihrem Verhalten und genetisch unterscheiden.

Zum einen gibt es die starken, aggressiven Orange-Hälse, die große Reviere verteidigen und sich mit möglichst vielen Weibchen paaren. Außerdem versuchen sie, ihren Nachbarn - insbesondere den Blau-Hälsen - Reviere und Weibchen wegzunehmen, weshalb die Wissenschaftler sie als "Thronräuber" bezeichnen.

Die Blau-Hälse dagegen besetzen kleinere Reviere und konzentrieren sich vor allem darauf, eine möglichst große Zahl von Weibchen zu verteidigen, weshalb sie den Titel "Partnerwächter" tragen. Darüber hinaus kooperieren diese Männchen, wenn es darum geht, sich die Orangenen vom Hals zu halten.

Und schließlich sind da die Gelb-Hälse. Sie präsentieren ihre Färbung nicht, sondern halten sich bedeckt und machen sich heimlich an die Weibchen heran, wenn der Revierbesitzer gerade abgelenkt ist. Schleicher nennen die Forscher diese Tiere.

Wie beim Schere-Stein-Papier-Spiel

Da alle drei Männchen-Typen in der selben Gegend leben, kommt es natürlich immer wieder zu Konflikten. Erwischen die Blau- oder Orange-Hälse einen der gelbgefärbten Schleicher, jagen sie ihn aus ihrem Revier. Besonders effektiv sind darin die Tiere mit blauer Kehlkopffärbung.

Die orangegefärbten Machos dagegen sind meist viel zu sehr damit beschäftigt, auf den Putz zu hauen und der blauen Konkurrenz in der Nachbarschaft die Weibchen auszuspannen, als dass sie bemerken würden, was hinter ihrem Rücken vorgeht.

"Die männliche Konkurrenz", so stellten die Forscher fest "entspricht dem Schere-Stein-Papier-Spiel. Schleicher schlagen Thronräuber, Thronräuber schlagen Partnerwächter und diese schlagen die Schleicher."

Auf diese Weise kommt es zu mehrjährigen Zyklen, in denen die Populationen nacheinander von Tieren mit gelben, blauen oder orangenen Kehlen dominiert werden. Gibt es besonders viele Blaue, so sieht es schlecht aus mit der Fortpflanzung der Gelben.

Doch dann haben die Orangenen Gelegenheit, die blaue Konkurrenz zu überflügeln. Ist nun die Zahl der Orangenen stark angewachsen, schlägt die Stunde der Gelben, sich auf ihre Kosten heimlich, aber effizient zu vermehren. Davon profitieren allerdings auch die Blauen, denn wenn die Zahl der Orangenen schrumpft, gibt es wieder Raum für sie. Und ihnen schließlich sind die Gelben nicht gewachsen, so dass ihre Zahl in den nächsten Generation wieder abnimmt.

Interessant ist an diesem Fall vor allem, dass deutlich zu beobachten ist, wie sich drei unterschiedliche Strategien innerhalb derselben Art entwickelt haben, die letztlich auf das gleiche Erbgut zurückgehen - nur dass die betreffenden Gene in verschiedenen Allelen (Variationen) existieren.

Diese Beobachtungen legen den Gedanken nahe, dass Gen-Variationen auch bei weiteren Tierarten und vielleicht sogar bei Menschen unterschiedliche Verhaltensweisen hervorrufen könnten. In Bezug auf unsere Spezies bewegen sich solche Vorstellungen allerdings noch weitgehend im Raum der Spekulation.

Dass sich manche Menschen besonders in jenen Kleidern wohlfühlen, die typischerweise das andere Geschlecht trägt, lässt sich übrigens nicht mit den Beobachtungen im Tierreich vergleichen. Zur Definition des Transvestitismus gehört schließlich das Fehlen einer sexuellen Motivation.

Und transsexuelle Menschen, die sich tatsächlich als Angehörige des anderen Geschlechts wahrnehmen, verfolgen ganz sicher keine alternative Fortpflanzungsstrategie. Sie wollen nicht das andere Geschlecht "darstellen", um Partner zu finden. Für sich selbst "sind" sie das andere Geschlecht. Sie stecken nur im falschen Körper.

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