Serie: Bio bizarr (8):Kinder-Killer
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Früher wurde es als abnorm betrachtet, wenn Tiere junge Artgenossen umbrachten. Heute wissen wir, dass dies für viele Arten völlig normal ist.
Das Töten von Jungtieren, seien es eigene oder fremde, ist sicher die Verhaltensweise, die wir bei Tieren am furchtbarsten finden.
Auch bei Menschen erscheint uns die Ermordung von Kindern als das schlimmste Verbrechen, das wir uns vorstellen können. Und es fällt uns sogar schwer, über die Gründe auch nur nachzudenken, die Eltern dazu bringen können, den Nachwuchs zu töten.
Lange Zeit kannte man dieses Verhalten fast nur von landwirtschaftlichen Nutztieren wie Schweinen und anderen Haustieren und hielt es für unnatürlich oder krankhaft.
Doch seit den achtziger Jahren etwa wissen Biologen, dass auch gesunde Wildtiere junge Artgenossen umbringen. Inzwischen ist die Zahl der Beobachtungen in der Natur so gewachsen, dass das Töten von Jungtieren als normaler Bestandteil im Verhaltensrepertoire vieler Tierarten betrachtet werden muss.
Eines der bekanntesten Beispiele für den sogenannten Infantizid sind Löwen. Übernehmen männliche Tiere ein Rudel, so bringen sie sämtliche Jungtiere im Alter von bis zu etwa neun Monaten um. Die Löwinnen, die sich sonst um den Nachwuchs kümmern müssten, stehen nun den neuen Männchen schneller als Fortpflanzungspartner zur Verfügung.
Ein ähnliches Verhalten kennt man auch von anderen Tieren, etwa von Lemuren, Bären oder Vögeln.
Unter dem Aspekt der möglichst effektiven Vermehrung hat dieses Verhalten für die männlichen Tiere natürlich Vorteile - je früher die Weibchen wieder empfänglich sind, desto mehr Zeit haben die Männchen, Jungen zu produzieren. Die Weibchen dagegen sind benachteiligt, haben aber offenbar keine Gegenmaßnahmen entwickelt.
Genau umgekehrt ist es beim Rotstirn-Blatthühnchen ( Jacana jacana), einer südamerikanischen Vogelart. Hier kümmern sich die männlichen Tiere um die Brut, während die Weibchen ein Revier verteidigen.
Gelingt es einem weiblichen Tier, eine Konkurrentin zu verdrängen, tötet sie deren Nachwuchs - und lässt sich anschließend vom nun jungen- und arbeitslosen Männchen begatten. Biologen sprechen hier von einem sexuellen Konflikt zwischen den Geschlechtern, die danach streben, die größten Vorteile für sich herauszuholen - auch auf Kosten des Fortpflanzungspartners.
Manche Tiere fressen den eigenen Nachwuchs
Andere Ursachen, die zum Infantizid führen können, sind offenbar begrenzte Ressourcen wie Nahrung und Raum sowie Stress. So bringen zum Beispiel in Gruppen von Wölfen oder Zwergmangusten ranghohe Weibchen manchmal die Jungen untergebener Weibchen um.
Unter schlechten Bedingungen töten weibliche Tiere einiger Arten auch ihren eigenen neugeborenen Nachwuchs - und fressen ihn häufig sogar auf. Schweine, Kaninchen und Mäuse etwa sind für dieses Verhalten bekannt. Auch bei Zootieren wird dies manchmal beobachtet.
Zwar lässt sich nicht genau sagen, welche Faktoren hier jeweils ausschlaggebend sind. Es wird aber angenommen, dass es sich letztlich um eine "ökonomische" Entscheidung handelt. Die Tiere haben zwar während der Schwangerschaft in den Nachwuchs investiert. Doch offenbar verarbeiten die Weibchen Umweltinformationen als Hinweise darauf, wie die Chancen stehen, die Jungen ausreichen schützen und versorgen zu können.
Erscheinen die Bedingungen schlecht, werden die Jungen getötet, manchmal sogar gefressen (was unter ökonomischen Gesichtspunkten natürlich naheliegend ist) und das Tier setzt auf den nächsten Wurf. Dies könnte zum Beispiel auch die Eisbärin Vilma im Nürnberger Zoo im Januar 2008 dazu gebracht haben, ihre beiden Jungen aufzufressen.
Schließlich gibt es noch den Mord am fremden Nachwuchs, der sogar bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen beobachtet wurde. Seit 1976, als Jane Goodall erstmals davon berichtet hat, weiß man, dass sowohl Weibchen als auch Männchen manchmal die Jungen anderer weiblicher Gruppenmitglieder oder fremder Weibchen umbringen und sogar teilweise fressen.
Das Ende der Idee von der Arterhaltung
Alle diese Beobachtungen belegen übrigens, dass die vielzitierte Vorstellung von der Arterhaltung als Ziel des Verhaltens falsch ist. Vielmehr sind alle Tiere bestrebt, ihren individuellen Fortpflanzungserfolg zu maximieren.
Dass es trotzdem zu kooperativem und altruistischem Verhalten unter Artgenossen kommt - insbesondere unter Verwandten übrigens -, ist hierzu kein Widerspruch. Es sind weitere Strategien, den eigenen Erfolg zu erhöhen. Es kommt eben auf die jeweiligen Möglichkeiten und Umstände an.
Das Töten von Jungen bei Tieren mit dem Kindsmord bei Menschen zu vergleichen, ist schwierig und wird vielen vermutlich als unangemessen erscheinen. Schließlich kommen hier ethische und moralische Werte ins Spiel. Interessant ist es aber doch, dass die Bedingungen, unter denen insbesondere Mütter ihre Kinder töten, sich meist ähnlich beschreiben lassen wie jene in der Natur.
Abgesehen von Fällen, bei denen eine Frau psychisch krank ist, morden Mütter manchmal, wenn der Nachwuchs unerwünscht ist und die Mütter unter Druck und Stress stehen und verzweifelt sind. So weiß man aus Indien und China, dass neugeborene Mädchen manchmal getötet werden, weil die Eltern - oder ein Elternteil - männlichen Nachwuchs bevorzugen.
Auch Eroberungskriege, die letztlich um den Zugang zu Ressourcen geführt werden, haben immer wieder zum Infantizid geführt. Einer der ältesten Hinweise auf eine solche Ermordung von Kindern stammt zum Beispiel aus dem Alten Testament.
So forderte Moses die israelitischen Hauptleute nach dem Sieg über die Midianiter auf: "So erwürget nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Weiber, die Männer erkannt und beigelegen haben; aber alle Kinder, die weiblich sind und nicht Männer erkannt haben, die lasst für euch leben." (4. Moses 31. 17-18)
Einen Verhaltensbiologen erinnert das mehr als vage an die Strategie der männlichen Löwen und Lemuren.