Serie: 200 Jahre Darwin (1):Der zaghafte Revolutionär

Zunächst tat sich Charles Darwin schwer mit seiner Evolutionstheorie - heute ist sie das Fundament der Biologie.

Christopher Schrader

Seinen Geburtstag, den 12. Februar, hat Charles Darwin nie besonders wichtig genommen. Auf seiner Weltreise mit dem Forschungsschiff Beagle verbringt er ihn im Jahr 1832 seekrank in seiner Koje, ankert an diesem Datum in den folgenden Jahren zweimal vor Feuerland, reitet zu Pferd durch Chile und später durch Australien.

Serie: 200 Jahre Darwin (1): Nur 30 Meter lang, aber ein Weltumsegler: die "Beagle", auf der Charles Darwin fünf Jahre lang unterwegs war

Nur 30 Meter lang, aber ein Weltumsegler: die "Beagle", auf der Charles Darwin fünf Jahre lang unterwegs war

(Foto: Quelle: The Complete Work of Charles Darwin Online)

In keinem Fall erwähnt er den besonderen Tag in Tagebuch oder Briefen. Als ihm seine Schwester Susan zum 25. Geburtstag gratuliert und schreibt, er solle doch eigentlich zum Plumpudding zuhause sein, reagiert der Naturforscher nicht einmal auf den Glückwünsch - falls der Brief ihn überhaupt erreicht hat.

Später, zurück in England, korrespondiert er an einem 12. Februar mit einem Kollegen über den Erwerb versteinerter Knochen. An einem anderen Geburtstag verpackt er Gesteinsproben aus Australien für einen Wissenschaftler in Manchester.

Wiederum einige Jahre später beschreibt er einem Naturforscher in Newcastle-upon-Tyne in großem Detail die Anatomie des Rankenfuß-Krebses Alcippe. Charakteristisch für Darwin ist insbesondere der 12. Februar 1859. Wegen seines Darmleidens, das ihn seit Jahrzehnten quält, ist er zur Kur nach Moor Park in der Grafschaft Surrey gefahren. Per Brief meldet er sich bei einem alten Freund und erzählt, er habe nur noch zwei Kapitel in seinem Buch zu schreiben. En passant erwähnt er, dass seine Familie gerade andere Verwandte besuche. Es ist sein 50. Geburtstag.

Welch ein Kontrast zu 2009! Darwins 200. Geburtstag wird auf der ganzen Welt gefeiert. Es gibt Festsymposien in Nairobi, Sevilla, Mexiko und Bangladesch. Die Webseite darwin-jahr.de listet 21 Veranstaltungen in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg auf.

In Prag lädt die Britische Handelskammer zum Galadiner, in Bishops Mills (Kanada) findet das "Phylum Feast" statt: Seine Besucher sollen unter Angabe der wissenschaftlichen Namen aus möglichst vielen verschiedenen Organismen schmackhaftes Essen zubereiten. Naturkunde-Museen in New York, London und Berlin haben Sonder-Ausstellungen vorbereitet.

Es gibt Vorträge in Chon Buri (Thailand), Sydney, Mendoza (Argentinien), Nürnberg und auf einem Science-Fiction-Kongress in Hunt Valley (USA). In Houston schließlich feiern Wissenschaftler "Abe and Chuck's Birthday Party" - auch Abraham Lincoln wurde am 12. Februar 1809 geboren.

Der Bogen der Festivitäten erstreckt sich bis in den Herbst, denn am 24. November jährt sich zum 150. Mal das Erscheinen von Darwins Hauptwerk "Über die Entstehung der Arten". Das Buch gilt heute als Grundlage der Evolutionstheorie, die Darwins Namen zu einem globalen Symbol gemacht hat wie Cäsar, Kolumbus und Einstein.

Die Evolutionstheorie ist heute die unumstrittene Basis aller Lebenswissenschaften. "Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn, außer im Licht der Evolution", hat 1973 Theodosius Dobzhansky gesagt, der unter anderem an der Columbia University in New York lehrte und einer der prominentesten Biologen des 20. Jahrhunderts war. Ernst Mayr, Deutscher mit Lehrstuhl in Harvard, pflichtete in seinem letzten Buch 2005 bei, Darwins Werk sei "der vielleicht größte geistige Umbruch in der Menschheitsgeschichte".

Und Axel Meyer von der Universität Konstanz, ergänzt: "Die Evolution ist das Fundament der gesamten Biologie und gleichzeitig der Zement, der alle Erkenntnisse aller biologischen Teildisziplinen lückenlos zusammenhält."

Der zaghafte Revolutionär

Die Biologen waren und sind so begeistert, weil die Evolutionstheorie den Schlüssel zum Verständnis der enormen biologischen Vielfalt auf der Erde enthält.

Sie zeigt auf, warum Giraffe und Maus gleich viele Halswirbel haben, warum der Aids-Erreger ein so erfolgreicher Organismus ist, warum sich der Knochenbau von Delfinflosse und Fledermausflügel ähnelt, warum sich Fische in isolierten Seen in zwei Arten aufspalten und sich Bienen und Blumen zum beiderseitigen Nutzen einander anpassen. "Wir können verstehen, warum die Natur verschwenderisch in der Vielfalt, aber knausrig in der Neuerung ist", schrieb Darwin über seine Erkenntnisse.

In den Kern des Gedankengebäudes hat der Naturforscher die "natürliche Auswahl" gestellt. Die ganze Tier- und Pflanzenwelt ist einem ständigen Kampf um das Dasein ausgesetzt, wie Darwin auf seiner Reise mit der Beagle und nach Lektüre eines berühmten Essays des Ökonomen Thomas Malthus erkannte. Die meisten Lebewesen haben so viel Nachwuchs, dass nicht alle genug Futter finden oder Räubern entkommen.

Nur gut an die Umstände angepasste Individuen schaffen es, Sprösslinge zu zeugen, die ihrerseits große Lebenschancen haben. Evolutionärer Erfolg bedeutet, Enkel zu haben.

Nun zeigt der Nachwuchs von Lebewesen oft zufällige, kleine Abweichungen von Körperbau oder Verhalten ihrer Eltern. Viele dieser Variationen bedeuten einen Nachteil, ihre Träger sterben früher oder haben weniger Nachwuchs.

In einigen Fällen aber ist die Veränderung ein Vorteil. Tiere wehren sich besser gegen Feinde oder sind attraktiver für Sexualpartner, Pflanzen wachsen in anderen Regionen. Sie können das neue Merkmal an mehr Nachkommen weitergeben als unveränderte Artgenossen.

Darwin listet 34 Vorgänger auf

Die Natur selbst wählt also im Laufe der Zeit zwischen den Varianten aus. Über tausende von Generationen können sich Spezies so aufspalten und stark verändern. Arten, die aufeinander angewiesen sind, entwickeln sich parallel oder gehen beide zugrunde. Krankheitserreger lernen, die Abwehr ihrer Wirte zu unterlaufen. Einmal bewährte Prinzipien wie den Knochenbau einer Extremität gibt die Evolution nicht auf, sondern passt sie neuen Erfordernissen an.

Die Frage, wie die Vielfalt der Natur zu erklären sei, bewegte zu Darwins Zeit viele Forscher. Er selbst listet 34 Vorgänger auf, die an eine "Modifikation der Arten" glaubten. Darunter der Franzose Jean-Baptiste de Lamarck: Seiner These von 1809 zufolge geben Tiere Eigenschaften weiter, die sie während ihres Lebens erworben haben.

Die Giraffe reckt ihren Hals nach Blättern und bekommt darum Kälber mit verlängertem Hals. Darwin erklärt es anders. Die Nachkommen, die zufällig einen längeren Hals haben, sind erfolgreicher. Die anderen sterben aus. Er lehnt das Zielhafte ab, das Lamarck postulierte: Seine Evolution ist blind, ziellos und verschwenderisch.

Den Grundgedanken seiner Theorie hatte Darwin Ende der 1830er-, Anfang der 1840er-Jahre gefasst. Das berühmteste Beispiel dafür sind die heute Darwin-Finken genannten Vögel, die der Naturforscher im September 1835 auf Galapagos vorfand. Entgegen der populären Legende bescherten sie ihm dort keinen Heureka-Moment.

Der zaghafte Revolutionär

Mehr aus Pflichtgefühl erlegte er zwei Dutzend der Tiere, beschriftete sie schlampig und vergaß sie dann. Zurück in London überließ er sie einem Freund, der ihn darauf hinwies, was er da mitgebracht habe: 13 verwandte Arten, aber mit fein abgestuften Schnäbeln, die damit Nüsse knackten, Insekten aus Ästen zogen oder Parasiten von der Haut der Galapagos-Echsen pickten.

In seinem Reisebericht "Die Fahrt der Beagle" verknüpft Darwin1844 neue Erkenntnis und ursprüngliches Erlebnis: "Wenn man die Diversität in einer kleinen, eng verwandten Gruppe von Vögeln sieht, könnte man sich vorstellen, dass aus einem anfänglichen Mangel an Vögeln auf diesem Archipel eine Spezies herausgegriffen und für verschiedene Zwecke modifiziert worden ist." Mehr schreibt oder veröffentlicht Darwin dazu vorerst nicht. Ein 35-Seiten-Essay von 1842 verschwindet genauso in der Schublade wie ein Manuskript von 230 Seiten zwei Jahre später.

Darwin zögert, will noch mehr Belege und Beispiele sammeln und fürchtet die Reaktion der frommen viktorianischen Zeitgenossen. An seiner tiefgläubigen Ehefrau Emma Wedgwood kann er die Reaktion ahnen, obwohl er selbst seine Theorie nicht als Kampfansage an die Religion versteht.

Derart befangen braucht Darwin einen Anstoß, um sein Buch zu schreiben. Diesen versetzt ihm ein Brief, den er im Sommer 1858 von der indonesischen Insel Ternate erhält. Ein jüngerer Naturforscher namens Alfred Russel Wallace hat seine eigene Evolutionstheorie aufgeschrieben und schickt sie an Darwin zur Beurteilung.

Ein moralischer Konflikt

Darwin gerät in einen moralischen Konflikt, will nun gar nichts mehr publizieren, damit niemand denken möge, er habe Wallace übervorteilt. Einflussreiche Freunde arrangieren jedoch binnen Wochen einen Termin im Forscherclub Linnean Society und verlesen Auszüge aus Darwins Manuskript von 1844 sowie aus dem Schreiben von Wallace. Die gemeinsame Veröffentlichung rettet Darwin um Haaresbreite den Vortritt; der Naturforscher macht sich nun mit Eifer daran, die "Entstehung der Arten" zu schreiben.

Als das Buch erscheint, ist es eine Sensation - es allein ist der Grund, warum die Geschichte Darwin so viel höher achtet als Wallace. Vielen Kollegen öffnet Darwin die Augen. Andere verreißen das Werk, auch viele Theologen. Besonders die Ausdehnung der Theorie auf den Menschen schockiert Zeitgenossen; plötzlich haben sie Verwandte bei den Affen. Darwin wird in Karikaturen als Schimpanse mit weißem Rauschebart gezeigt. Doch in Großbritannien legt sich der Protest bald; 1865 ist Evolution Prüfungswissen an der Universität Cambridge.

In den USA aber formt sich die Bewegung des Kreationismus, die den puristischen Schöpfungsglauben bewahren will. Sie stempelt Darwins Lehre zum Darwinismus und setzt ihn mit Atheismus gleich. Es sind die Kirchenleute, die die Evolutionstheorie als unvereinbar mit Gottesglauben darstellen, nicht Wissenschaftler. Bis heute hat diese fundamentale Opposition gegen Darwin tiefe Wurzeln in der amerikanischen Bevölkerung. In Umfragen äußern fast zwei Drittel Zweifel oder Ablehnung gegen die Lehre von der Veränderung der Arten.

Dazu hat sicherlich beigetragen, dass einige Nachfolger Darwins der Evolutionslehre martialische Untertöne gaben. Er selbst machte sich 1869 den vom Philosophen Herbert Spencer geprägten Begriff vom "Überleben des Stärksten" (eigentlich: "survival of the fittest") zu eigen. Darauf stützten sich die sogenannten Sozialdarwinisten, um eine Ellbogengesellschaft ohne Mitgefühl für die Schwächsten zu propagieren. Für Menschen, die den Glauben als Auftrag zur Nächstenliebe verstehen, verstärkte das die Abneigung gegen Darwins Lehre.

Der zaghafte Revolutionär

In der Wissenschaft aber ist der Siegeszug ungebremst. Die ersten empirischen Ergebnisse, die Darwins Gedankengebäude hätten stützen können, gehen an dem Naturforscher allerdings vorbei: 1856 hatten Arbeiter im Neandertal bei Düsseldorf die Knochen von Urmenschen entdeckt. Und im Februar 1865 berichtet der Augustinermönch Gregor Mendel vor dem Naturforschenden Verein im böhmischen Brünn über seine Entdeckungen in der Vererbungslehre.

Diese waren der Beginn der heutigen Genetik, die Darwins Evolution bestätigt und antreibt. Erst im 20. Jahrhundert führten Biologen wie Dobzhansky und Mayr beide Wissensgebiete zusammen und legten damit die Basis der modernen Biologie.

Eine Idee, die vielen missfällt

Einen Höhepunkt erreicht diese Entwicklung 1976, als der Brite Richard Dawkins sein Buch "Das egoistische Gen" veröffentlicht. Er stellt darin die einzelne Erbanlage als eigentlichen Ansatzpunkt der Evolution dar. Sie ist dann erfolgreich, wenn sie möglichst viele Kopien ihrer selbst in die Welt setzt; Körper und beim Menschen auch Geist sind nur Vehikel.

Die radikale Position prägt schnell das Denken, löst aber auch Kritik aus. Vielen missfällt die Idee, der Mensch sei eine willenlose Überlebensmaschine für Gene, die auch sein Verhalten steuern. Das hat Dawkins zwar gar nicht so gesagt, aber die Verkürzung eignet sich prima, Opposition gegen die Evolutionslehre zu mobilisieren.

Die Kreationisten profitieren davon, dass Dawkins auch in der Wissenschaft umstritten ist. 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Buch gibt es viele Interpretationen der Theorie; die Denkschulen attackieren einander zum Teil heftig. Einige sehen in der Natur vor allem Konkurrenz am Werk, andere heben Kooperation hervor.

Manche betonen das Zufällige an der Evolution, andere nehmen an, sie bevorzuge manche Pfade. Schließlich gibt es erstaunliche Parallelen in der Entwicklung grundverschiedener Organismen, zum Beispiel ist das Auge 40-mal entstanden.

Doch an Darwins Grundprinzipien äußert kein Forscher Zweifel: Die Veränderung der Arten und das Wirken der natürlichen Auslese haben sie überall in der Natur nachgewiesen.

Auch wenn die Wissenschaft nicht jeden einzelnen Schritt von einer Urzelle zu Palmen, Störchen, Doktorfischen und Menschen nachzeichnen kann, ist kaum ein anderes wissenschaftliches Gedankengebäude derart umfassend durch Beobachtungen und Experimente abgesichert. Darwins Geburtstag nehmen die Biologen daher als willkommenen Anlass, dieses ordnende Grundprinzip ihrer Wissenschaft zu feiern.

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