Sensationeller Knochenfund:Homo X

Ein kleines Knochenstück aus der Zeit der Neandertaler könnte sich als Sensation entpuppen. Genanalysen deuten darauf hin, dass es von einer ganz neuen Menschenform stammt.

Katrin Blawat

Es ist nur ein sieben Millimeter langer Knochensplitter, der viele Jahrtausende in einer Höhle im spärlich besiedelten Altai-Gebirge in Südsibirien lag. Doch vielleicht verbirgt sich in ihm eine wissenschaftliche Sensation: Das Fragment liefert Hinweise auf eine bislang unbekannte Menschenform - vielleicht sogar auf eine ganz neue Art. Anders als bislang angenommen, lebten demnach vor 30.000 bis 50.000 Jahren in Zentralasien nicht nur der Neandertaler und der moderne Mensch nebeneinander, sondern auch jene neu entdeckte Menschenform, die ihre Entdecker im Fachblatt Nature (online) etwas unbeholfen nach dem Namen des Fundortes als "Denisova-Mensch" bezeichnen. Wer aber war dieser Mensch?

Das Team um die Paläogenetiker Johannes Krause und Svante Pääbo vom Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie musste all seine Erkenntnisse aus einem sieben Millimeter kurzen Stückchen eines Fingerknochens gewinnen. Bence Viola, der im Team für die morphologischen Untersuchungen des Materials zuständig war, kann daher nur einige Stichworte geben: Der Knochensplitter muss von einem Kind stammen, vielleicht fünf bis sieben Jahre alt, Geschlecht unbekannt.

Weitaus ergiebiger war hingegen die genetische Analyse des Fundes. Krause und Pääbo untersuchten die DNS in den Mitochondrien der Knochenzellen. Sie wird jeweils von der Mutter an ihre Nachkommen weitergegeben und lässt sich leichter isolieren und entziffern als das Erbgut im Zellkern.

Anschließend verglichen die Forscher das neu sequenzierte Genom mit den Mitochondrien-Genomen von 54 heute lebenden Menschen sowie mit den Genomen von sechs Neandertalern. Während sich das Erbgut des Neandertalers und das des modernen Menschen an etwa 200 Positionen unterscheiden, sind es im Erbgut des Denisova-Menschen knapp 400 Stellen. Aus weiteren Analysen schließen die Forscher, dass der letzte gemeinsame Vorfahre dieser drei sogenannten Homininen vor etwa einer Million Jahre gelebt haben muss.

"Wir haben Hinweise auf eine Menschenform gefunden, die irgendwie neu und anders ist", erläutert Pääbo. Bewusst wählt der Paläogenetiker eine schwammige Formulierung, denn genau geklärt ist die Identität des Neandertaler-Zeitgenossen noch nicht. Gehört er vielleicht einer ganz neuen Menschenart an? "Das wäre natürlich sensationell", sagt der an der Studie beteiligte Bence Viola. Oder ist der Denisova-Mensch lediglich eine Variante eines bereits bekannten frühen Menschen?

Spätestens seit dem inzwischen jahrelang andauernden Streit um den Flores-Menschen, benannt nach der gleichnamigen indonesischen Insel, sind solche Fragen mehr als nur Kleinigkeiten für Paläoanthropologen. Der Aufregung um die mögliche Entdeckung einer neue Menschenart begegnet Pääbo mit einer weiteren Vermutung: "Es kann auch sein, dass wir das Erbgut eines Neandertalers untersucht haben, dessen Ur-Ur-Urgroßmutter einer unbekannten Menschenvariante angehörte. Wir können nur spekulieren."

Das gilt auch für die "eigentlich spannende Frage", wie Pääbo sagt: Wie eng lebte der Denisova-Mensch mit dem Neandertaler und dem modernen Menschen zusammen? "Das Altai-Gebirge ist zwar groß", sagt Bence Viola. "Aber dann auch wieder nicht so groß, dass man sich nicht innerhalb einiger tausend Jahre mal über den Weg läuft." Womöglich also pflanzte sich der Denisova-Mensch sogar mit den beiden anderen Arten fort. Der Neandertaler und der moderne Mensch jedenfalls hatten miteinander Sex, vermuten mehrere Forscher.

Gab es noch viel mehr Menschenformen?

In einem anderen Punkt sind sich die Wissenschaftler ausnahmsweise recht sicher: Der Denisova-Mensch gehörte nicht zu Homo erectus, also jener Gruppe Homininen, die als Erste vor 1,9 Millionen Jahren Afrika verließen und weitere Erdteile besiedelten. Vor etwa 500.000 Jahren folgten dem Homo erectus die Vorfahren des Neandertalers aus Afrika und vor etwa 50.000 Jahren der moderne Mensch. "Unsere Ergebnisse lassen darauf schließen, dass es mindestens eine weitere, bislang unbekannte Auswanderungswelle aus Afrika gab", sagt Studienautor Bence Viola. Wann die stattgefunden habe? "Wir wissen es nicht", sagt Pääbo.

Auch wenn sie die Wanderung des Denisova-Menschen zeitlich nicht einordnen können, gilt sie den Forschern als wichtiger Beweis dafür, wie mobil die frühen Menschen waren. So sieht der Frankfurter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk mit der aktuellen Studie seine langjährige Vermutung bestätigt: "Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Vielfalt früher Menschenformen auch außerhalb Afrikas nachgewiesen wurde. Ich nehme an, dass es insgesamt noch eine viel höhere geographische Vielfalt früher Menschen gegeben hat."

Dem stimmt auch Svante Pääbo zu. In den nächsten Jahren könne das Bild von den frühen Menschen sehr viel komplexer werden. "Unsere neuen Ergebnisse sind eine Einladung darüber nachzudenken, ob es nicht noch viel mehr Menschenformen gegeben haben könnte, die zeitgleich mit dem Neandertaler und dem modernen Menschen gelebt haben", sagt der Paläogenetiker. "Wenn ich spekulieren sollte, würde ich sagen: ja."

Umso erstaunlicher klingt es da, dass Forscher erst jetzt Hinweise auf die neue Menschenform gefunden haben. Die Gründe dafür sind weniger wissenschaftlicher als vielmehr praktischer Natur: "Die Untersuchungen haben sich bislang fast ausschließlich auf Westeuropa, Afrika und den Nahen Osten konzentriert", sagt Bence Viola. Friedemann Schrenk spricht gar von einem "Eurozentrismus", der wissenschaftshistorische Ursachen habe. "In anderen Regionen der Erde sind die geographischen Varianten früher Menschen oft einfach noch nicht entdeckt, oder sie haben keinen Namen bekommen", sagt der Wissenschaftler.

Pääbo und sein Team hatten Glück, dass der Fingerknochen jahrtausendelang tief hinten in der Denisova-Höhle gelegen hatte und nicht im warmen Afrika oder Europa, wo das Erbgut schneller zerfallen wäre. Über insgesamt 270 Quadratmeter erstreckt sich die Denisova-Höhle im Norden des Altai-Gebirges, und selbst im Sommer wird es dort nicht wärmer als etwa sieben Grad Celsius. "Unter solchen Bedingungen kann die DNS gut erhalten bleiben. Dann ist es völlig in Ordnung, seine Aussagen allein auf genetische Untersuchungen zu stützen", sagt der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. Das kühle Klima war es auch, das den Fingerknochen selbst vor dem Zerfall bewahrt hat.

"Es ist ungewöhnlich, dass der Knochen überhaupt so lange Zeit überdauerte", sagt Viola. In den vergangenen Jahren hatten die Forscher bereits zwei menschliche Zähne aus der Höhle geborgen, sie aber nicht analysieren können. Auch jetzt erwartet die Wissenschaftler noch viel Arbeit. Zum einen wollen sie den Fingerknochen selbst genauer untersuchen. "Alle anderen Menschenarten, die wir kennen, haben wir auch anhand morphologischer Merkmale bestimmt", sagt Bence Viola. Aus dem Stückchen Fingerknochen verlässliche Aussagen abzuleiten, werde jedoch schwierig. "Wir haben bislang nur wenige Kinderknochen, die uns als Vergleich dienen könnten", sagt Viola.

Parallel zur Knochenanalyse haben die Forscher bereits begonnen, das Zellkern-Erbgut zu analysieren. Diese Methode ist exakter und zuverlässiger, aber auch aufwändiger als die Entzifferung des mitochondrialen Erbguts. "Es wird einige Monate dauern", sagt Pääbo. "Wir sind aber zuversichtlich, dass wir dann klarer sagen können, um wen es sich bei dem Denisova-Mensch handelt."

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