Psychologie:Die meisten Menschen überschätzen sich grandios

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Ob Parlamentswahl, Finanzkrise oder Impfungen: Die Themen können noch so komplex sein - Menschen glauben dennoch, dass sie alles verstehen und beharren auf festgefügten Ansichten. Dabei gibt es Mittel gegen die Selbstüberschätzung.

Von Sebastian Herrmann

Gut, wie hat sich das jetzt ergeben mit der Finanz- und Euro-Krise? Die Banker haben komische Wertpapiere erfunden und verkauft; und die Griechen haben Geld erfunden und Luft verbucht. War es nicht so? Gierige Banker in Amerika und die verschwenderischen Griechen - die sind schuld. Ganz sicher. Dann sind da noch die Italiener, die Spanier und dieser Europäische Rettungsschirm, oder wie das heißt, ein paar Bad Banks, staatliche Bürgschaften und. . . ach lassen wir das, am Ende sind halt die Ehrlichen wieder die Dummen und alles nur wegen der Geier an der Wall Street und des Chaos in Griechenland. So einfach ist das?

Nein, selbstverständlich nicht. Die Realität ist unendlich viel komplexer. Trotzdem zimmern sich die meisten Menschen einzelne Meinungen oder gleich ein ganzes Weltbild zusammen, das oft ebenso simpel wie dämlich ist. Das trifft nicht nur auf die Stammtischbesatzungen des Landes zu, nein, jeder ist dafür anfällig - am meisten in den Bereichen, in denen das wirkliche Wissen am geringsten ausfällt.

Sozialwissenschaftler um Philip Fernbach von der Universität von Colorado bestätigten das kürzlich im Fachmagazin Psychological Science (Bd. 24, S. 939, 2013).

Die grobe Faustformel lautet: Je vehementer eine Meinung vertreten wird, desto brüchiger ist meist das Fundament aus Fakten, auf dem diese ruht. Die meisten Menschen überschätzen sich grandios und leben in einer Illusion vermeintlichen Verstehens. Das sei tragisch, schreiben die Wissenschaftler, schließlich zeichnen sich viele gesellschaftlich relevante Themen durch eine hohe Komplexität aus - die Finanzkrise, der Klimawandel, Gesundheitsreformen, Konflikte wie der in Syrien und so weiter.

Der Mensch und seine Hybris: Die Neigung zur Selbstüberschätzung ist universell verbreitet. Overconfidence nennen Psychologen diese kognitive Verzerrung, die auf Deutsch manchmal auch mit dem sperrigen Begriff "Vermessenheitsverzerrung" bezeichnet wird.

Den Effekt haben Wissenschaftler in zahlreichen Studien beobachtet. Dazu zählt der übertriebene Optimismus, die eigenen Ziele zu erreichen - obwohl die Erfahrungen dagegen sprechen. Das Projekt wurde erst kurz vor dem letztmöglichen Termin beendet? Egal, beim nächsten Mal wird alles anders. Das mit dem Sportprogramm hat schon so oft nicht hingehauen? Macht nichts, morgen beginnt ein neues Leben, diesmal wirklich.

Neben diesen banalen, alltäglichen Situationen, in denen Menschen ihre Willenskraft oder ihre Disziplin überschätzen, zeigt sich die Vermessenheitsverzerrung auch in weniger offensichtlichen Bereichen. Amos Tversky und Daniel Kahneman beobachteten, dass sich ihre Probanden mit Antworten auf eine Schätzfrage chronisch übertrieben sicher waren - und regelmäßig weit danebenlagen.

Andere Psychologen haben gezeigt, dass es auch mit Menschenkenntnis nicht weit her ist. Egal ob die Probanden nun die Zahl der früheren Sexualkontakte neuer Partner einschätzen sollten, zu den Hobbys ihrer Mitbewohner befragt wurden oder sich festlegen sollten, ob ein Mensch die Wahrheit sagt - stets gab eine große Zahl von ihnen mit Selbstgewissheit falsche Antworten.

Unwissen oder gar Inkompetenz verstärken den Hang zur Selbstüberschätzung. Das haben die Psychologen David Dunning und Justin Kruger mit einer der bekanntesten Studien zur Selbstüberschätzung demonstriert - das Ergebnis ist heute als Dunning-Kruger-Effekt bekannt. Die Wissenschaftler bemerkten, dass ausgerechnet die Studenten ihre Leistungen besonders stark einschätzten, die in den Tests besonders schlecht abschnitten.

Gegengift gegen die Selbstüberschätzung

Die Forscher um Fernbach fanden in ihrer aktuellen Studie ähnliche Belege. Sie baten ihre Probanden um Einschätzungen, wie gut sie sechs verschiedene politische Themen durchschauten. Unter anderem sollten sie den außenpolitischen Kurs der USA gegenüber Iran bewerten, Meinungen zum Renten- oder Gesundheitssystem sowie zum Handel mit Emissionszertifikaten abgeben und bewerten, wie tief ihr Verständnis dieser komplexen Probleme sei.

Dann baten die Psychologen um Fernbach die Teilnehmer des Tests um eine mechanistische Erklärung dieser einzelnen Politikfelder - sie sollten also aufdröseln, wie etwa das Gesundheitssystem aufgebaut ist, wie es im Detail funktioniert und die möglichen Folgen konkreter Eingriffe daraus ableiten. Als sie danach abermals abfragten, wie gut die Probanden die verschiedenen politischen Problemfelder verstanden hatten, zeigte sich ein zurückhaltenderes Bild. Die Teilnehmer waren im Schnitt weniger stark davon überzeugt, dass sie die Außenpolitik der USA gegenüber Iran oder die Steuergesetzgebung ihres Landes durchdrungen hatten. Offensichtlich war es ihnen schwergefallen, diese zu erklären und sie hatten das als Indiz bewertet, dass ihr Wissen wohl doch lückenhaft ist.

Die Wissenschaftler um Fernbach haben in ihren Experimenten also ein mögliches Gegengift gegen die leichtfertige Selbstüberschätzung gefunden. Fordert man die Menschen auf, komplexe Sachverhalte zu erklären, werden ihnen die Grenzen ihres Wissens bewusst. Dieses Mittel milderte auch die politische Haltung zu diesen teils hochumstrittenen Themen ab.

"Die Urteile waren weniger extrem, wenn sie erst nach einer Erklärung abgegeben wurden", sagt Fernbach. Der Versuch, komplexe Zusammenhänge zu erklären, förderte wahrscheinlich die erlebte Unsicherheit zu einem Thema. Wenn die Illusion zerplatzt, man habe ein komplexes Thema verstanden, dann bröckelt auch die eigene Haltung dazu. In der Realität sei es aber leider so, dass die Wähler gerne glauben, sie würden sämtliche Zusammenhänge durchschauen und äußern extreme Meinungen.

Sollten die Probanden ihre Meinungen zu den komplexen Themen nur begründen, linderte das ihre Selbstüberschätzung hingegen nicht. "Argumente für eine Position anzugeben beinhaltet nicht zwingend eine Erklärung für einen Zusammenhang", sagt Fernbach.

Wer eine Meinung verteidigt, berufe sich stattdessen oft auf Gefühle, eine Wertvorstellung oder diffuse Ideen. Ein Beispiel: Viele Menschen lehnen Impfungen ab - geben als Begründung aber nur ein generelles Unbehagen gegenüber der Pharmaindustrie an. Über den unmittelbaren Nutzen von Impfungen, der in komplexen Studien ermittelt werden muss, sagt diese Argumentation jedoch nichts aus. Nur Begründungen für eine Meinung zu geben, so ist aus der Literatur bekannt, verstärkt diese sogar noch. Und vermeintliche Argumente lassen sich für alles finden, egal wie sinnvoll sie sind.

Politik funktioniert weitgehend auf diese Weise. Parteien vertreten Positionen und verteidigen diese mit Argumenten. Mit komplexen Erklärungen lassen sich Wähler eben kaum erreichen.

Der einzelne Mensch zimmert sich auf ähnliche Weise sein Selbstbild zusammen: Er hat Meinungen und begibt sich auf die Suche nach Informationen, die diese unterstützen. Er wird sie finden - egal, ob er die Investmentgesellschaften oder die griechische Politik für die Krise des Euro verantwortlich macht. Entscheidend ist, dass es kaum Mühe bereitet, auf diese Art Positionen abzusichern und einer Illusion des Verstehens zu verfallen. Allerdings: Je schwerer die zu lösenden Aufgaben sind, desto geringer fällt die Hybris der Menschen aus - dann kapieren sie, dass sie nicht alles wissen.

Manchmal reicht es sogar, wenn man ein paar Dinge mehr bedenken muss. Das zähmt den Extremisten, selbst wenn es nur um Gebäck geht. Die Psychologin Patricia Linville machte einmal ein Experiment mit Keksen. Eine Gruppe sollte lediglich zwei Eigenschaften des Gebäcks bewerten, die andere gleich sechs - etwa die Bissfestigkeit, den Geschmack oder die Butternote. Mussten die Probanden nur zwei dieser Dimensionen beurteilen, fiel ihr Votum extremer aus, sehr gut oder sehr schlecht.

Mehr Eigenschaften zu bewerten, milderte die Urteile. Es strengt an, vieles zu bedenken. Genauso wie es eine kognitiv fordernde Aufgabe ist, exakte Erklärungen komplizierter Vorgänge zu liefern. Und alles, was sich mühsam oder kompliziert anfühlt, reduziert die Illusion von Wahrheit. Geistige Anstrengung zwingt die Hybris in die Knie. Aber wer will sich schon anstrengen?

© SZ vom 29.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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