Seide:Ein Faden für die Götter

Seide ist leicht und trotzdem äußerst reißfest - sie übertrifft jedes natürliche und synthetische Material, das wir kennen. Doch im Labor gelingt es noch nicht, das Naturprodukt nachzubilden.

Katrin Blawat

Die chinesische Kaiserin Si Ling Chi wäre vermutlich nie zur Göttin geworden, hätte sie sich nicht mit Raupen beschäftigt. Der Überlieferung nach studierte die Kaiserin vor fast 5000 Jahren jene Raupen, die sich einen Kokon aus Seide spinnen. Si Ling Chi lernte, diese Raupen zu züchten, die Seide zu gewinnen und zu verarbeiten. Ihr Wissen gab sie an das Volk weiter, das sich fortan in luftige, schimmernde Gewänder kleiden konnte. Als Dank wurde die Kaiserin zur "Göttin der Seidenraupe" ernannt.

Seidenraupenzucht in Schwerin

Zieht man einen Seidenfaden schnell aus der Raupe heraus, wird die Seide sehr reißfest. Gibt die Raupe den Faden langsam ab, wird er besonders dehnbar.

(Foto: dpa)

Jahrtausende später hat sich an der Wertschätzung von Seide nicht viel geändert. Das liegt an den außergewöhnlichen Eigenschaften der Faser, die Raupen und Spinnen erzeugen: "Seide übertrifft jedes natürliche und synthetische Material, das wir kennen", schreiben die Bioingenieure Fiorenzo Omenetto und David Kaplan von der Tufts University in Massachussets in der jüngsten Ausgabe des Fachmagazins Science. Sie könne fünfmal so fest sein wie die Kunstfaser Kevlar, aus denen zum Beispiel kugelsichere Westen gefertigt werden.

Den Rekord hält der Faden der Goldenen Radnetzspinne: Man kann ihn um 40 Prozent dehnen, ohne dass er reißt. Dabei hält die Faser Zugspannungen aus, die den Werten von Stahl entsprechen. Gefragt ist ein solches Material für viele Anwendungen, etwa in der Medizin als Nähmaterial und als Muskel-, Knorpel- oder Nervenersatz, aber auch in der Raumfahrt- und Elektronikindustrie. Wenn es nur genug von dem Rohstoff gäbe.

Wie es sich für eine Faser gehört, die im antiken Rom mit Gold aufgewogen wurde, ist Seide auch heute noch kostbar. Zwar weiß man seit Si Ling Chis Zeiten, wie sich die Fäden aus Raupen gewinnen lassen. Vor allem in China, Brasilien und Indien gibt es entsprechende Farmen; die Jahresproduktion beträgt etwa 300.000 Tonnen weltweit. Um ein Massenprodukt zu werden, reicht das jedoch nicht, außerdem ist das Verfahren zeit- und arbeitsintensiv. Dass die drei Länder den Seidenbau faktisch monopolisiert haben, spornt den Westen an, eigene Produktionswege zu entwickeln.

Dabei gibt es hier wahre Meister der Seidenherstellung, die ihre Kunst wirkungsvoll bei Sonnenaufgang präsentieren: Spinnen, deren Netze aus Seide bestehen. Das Material, in dem sich morgens glitzernde Tropfen fangen, eignet sich im Prinzip auch für Fallschirme und kugelsichere Westen. Doch weil Spinnen dazu neigen, sich gegenseitig aufzufressen, lassen sie sich nicht in großen Mengen halten. Zum Bedauern der Wissenschaftler, denn meist ist Spinnenseide von besserer Qualität als die der Raupen.

Also versuchen Forscher, Kunstseide im Labor zu produzieren. Gelänge dies, könnte man die Faser dem jeweiligen Verwendungszweck anpassen. Praktisch wäre das zum Beispiel für medizinische Anwendungen, wo es die meisten Erfahrungen mit Seide gibt. Die Naturfaser enthält ein Eiweiß, das im direkten Kontakt mit dem Menschen zu einer Immunreaktion führen würde. Um das zu verhindern, wird die Seide mit einer dünnen Wachsschicht überzogen.

Säugetiere, Bakterien und sogar Pflanzen sollen bei der Seidenproduktion helfen. Der Erfolg ist bislang mäßig. An das Naturprodukt reiche noch keine der Kunstseiden heran, schreiben Omenetto und Kaplan in ihrer Übersichtsarbeit. Kürzlich berichtete Randy Lewis von der University of Wyoming, er habe Seidenfäden aus der Milch von Ziegen hergestellt, in deren Erbgut er zuvor Spinnengene eingebaut hatte. Die Ziegen-Spinnenseide riss aber deutlich leichter als natürliche.

Seide aus Gentech-Pflanzen

Omenetto und Kaplan halten es in Zukunft jedoch für denkbar, Seide auf genetisch veränderten Pflanzen wachsen zu lassen und sie wie Baumwolle zu ernten. Die Futterpflanze Luzerne könne sich hierfür eignen, vermutet auch Lewis. Die längste Tradition hat das Umprogrammieren indes im Erbgut bei Escherichia coli-Bakterien, wobei die Mikroben Abschnitte der Seidenmoleküle bilden. Doch noch hat es kein Bakterium geschafft, das Molekül in seiner gesamten Länge zu produzieren.

Altweibersommer

Spinnen neigen dazu, sich gegenseitig aufzufressen - deshalb lassen sie sich nicht in großen Mengen halten. Das bedauern Forscher, die Seide gewinnen wollen. Denn Spinnenseide ist meist von besserer Qualität als die der Raupen.

(Foto: dpa)

Seide besteht aus langen Eiweißketten, die die Faser elastisch machen. Entscheidend für die Eigenschaften eines Stoffes ist aber nicht nur, aus welchen Grundbausteinen er besteht, sondern auch, wie diese sich anordnen. "Wir haben kein vollständiges dreidimensionales Bild vom Seidenprotein", sagt Fritz Vollrath, der Leiter der Oxford Silk Group. "Das ist wie bei einem Lego-Haus. Da sehen wir zwar, dass es rote, gelbe und grüne Steine gibt. Aber wir kennen die Handgriffe nicht, mit denen sie zusammengesetzt wurden." Übertragen auf die Seide heißt das: An welchen Stellen und in welchen Winkeln muss sich das Eiweiß falten, damit es nahezu unzerstörbar wird?

Setzt man Chemikalien wie Alkohol ein, hohe Temperaturen und Drücke, fügt sich das Eiweiß zwar häufig in die korrekte Form. Doch zum einen leiden Reißfestigkeit und Dehnbarkeit unter den unnatürlichen Produktionsbedingungen. Zum anderen sei es typisch für Seide, dass sie sich auch unter einfachsten Bedingungen - Umgebungstemperatur, normaler Druck und ausschließlich Wasser als zusätzliche Substanz - herstellen lasse, sagt Vollrath. "Eine Spinne schafft es, Fliegensoße ohne messbaren Energieaufwand in ein Material zu verwandeln, das reißfester ist als jedes andere. Da müssen wir auch hinkommen."

Während einige Forscher noch an der Energiebilanz ihrer Seidenproduktion basteln, haben sich Horst Kessler von der Technischen Universität München und sein Team einem anderen Problem angenommen. In den Spinndrüsen der Tiere sind die Seidenproteine sehr stark konzentriert. Außerhalb der Drüsen würden sie daher sofort verklumpen - warum passiert das nicht schon, solange sich die Proteine in den Tieren befinden?

Kessler und eine Arbeitsgruppe aus Bayreuth haben die Antwort gefunden: Im Innern der Drüsen gibt es Moleküle, die wie Abstandhalter zwischen den Eiweißketten wirken. Im Spinnkanal, wo aus den einzelnen Proteinketten ein Seidenfaden wird, lösen sich diese Abstandhalter auf. So können sich die Ketten an einigen Stellen miteinander verbinden. So erhält der Seidenfaden seine typische Stabilität.

Trotz solcher Teilerfolge ist die Zeit der Raupenfarmen, auf denen die Jahrtausende alte Kunst des Seidenbaus betrieben wird, wohl noch nicht vorbei. Zumal Raupenseide mit Hilfe einiger Tricks ebenso belastbar werden kann wie die aus Spinnen gewonnene Faser, wie Vollrath entdeckt hat. Zieht man den Faden schnell aus der Raupe heraus, bevor das Tier ihn zum Kokon verspinnen kann, wird die Seide so reißfest wie die von Spinnen produzierte. Gibt die Raupe den Faden hingegen langsam ab - mit etwa vier Millimeter pro Sekunde - wird er besonders dehnbar.

Eines jedoch hat kein Seidenbauer seit der chinesischen Kaiserin Si Ling Chi mehr geschafft: Dass er für seine Verdienste mit dem Titel einer Gottheit geehrt wurde.

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