Meeresbiologie:Der Kult um die Seekühe

Manatee Trichechus manatus latirostris Chrystal River Florida USA Nordamerika *** Manatee Tric

Manatis sind friedliche Riesen - bis zu drei Meter lang - denen man die Verwandtschaft mit den Elefanten ansieht.

(Foto: imago/imagebroker)
  • Im 20. Jahrhundert waren Seekühe, auch Manatis genannt, in Florida nahezu ausgestorben.
  • Heute gibt es wieder mehr Tiere, doch Kältestress und Kollisionen mit Motorbooten setzen den Tieren noch immer zu.
  • Mittlerweile sind die Säuger zur Touristenattraktion geworden. Ob das für ihr Überleben hilfreich oder hinderlich ist, ist noch nicht sicher.

Von Stefan Wagner, Crystal River

Wie Wattebäusche schweben Morgennebelschwaden über dem Crystal River. Captain Ed Mensters flaches Boot, das ein wenig aussieht wie ein überdimensioniertes Golfcart ohne Reifen, tuckert direkt auf die weiße Wand zu. Noch ist es kühl auf dem breiten Fluss nahe der Westküste Floridas. Gelangweilt beobachten ein paar Pelikane vom Ufer aus, wie sich die Passagiere auf Captain Eds Boot in Neoprenanzüge zwängen, einen tiefen Schluck heiße Schokolade aus dem Plastikbecher trinken, dann mit Schnorchel und Taucherbrille ins dunkle Wasser gleiten. Es dauert nicht lang, ein paar Sekunden vielleicht, schon klingen erste begeisterte Rufe übers Wasser: "Wow!", "Cool!", "Incredible!", "Cute!" Zwischen den acht Frühmorgen-Schnorchlern dümpeln fünf erwachsene Seekühe (Manatis) und ein Kalb.

Ohne Scheu bewegen sich die etwas unförmigen Giganten, gründeln im zwei Meter seichten Wasser, knabbern an der Reißverschlussschnur eines Neoprenanzugs, reiben sich am Rumpf des Bootes. Die 600-Kilo-Tiere, manche mehr als drei Meter lang, schwimmen eng um die Schnorchler - als suchten sie deren Nähe.

Die zehnjährige Audrey streichelt über die glibberige, ledrige Haut der Tiere, die sich kaum anders anfühlt als der Neoprenanzug, den sie selbst trägt. "Kann ich einen von denen haben?", fragt sie scheinheilig ihre Mutter, die mit der Go-Pro-Kamera das Geschehen dokumentiert. Ein Mittfünfziger neben ihr lässt sich langsam auf einen Manati zutreiben, bis sich die Nasen fast berühren. Eine junge Frau gluckst verzückt. Hat eine der Seekühe sie doch tatsächlich mit den beiden Vorderflossen umarmt. Inzwischen sind noch drei Boote angekommen, vom Ufer schwimmen mehrere Touristengruppen mit bunten Schwimmnudeln auf die Seekühe zu.

Seekühe sind merkwürdige Stars und keine wirklichen Schönheiten

Es ist Manati-Saison in Crystal River! Zwischen November und März tummeln sich an den Quellen in Citrus County bis zu tausend der seltenen Rundschwanzseekühe. Die Frischwasserquellen sind eine Wärmestube für die kälteempfindlichen Säugetiere. Fällt die Wassertemperatur im Golf von Mexiko unter etwa 20 Grad, schwimmen die sanften Riesen zehn Kilometer flussaufwärts zu den Quelltöpfen, die das ganze Jahr lang 22 Grad warmes Wasser ausstoßen. Dort ruhen sich die harmlosen trägen Meeressäuger aus, nur unterbrochen von gelegentlichen Fressausflügen zu den Seegraswiesen im Golf.

Der Kult um die Knollnasen hat die Besucherzahl in Crystal River in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Mehr als eine halbe Million Menschen pilgerten 2017/18 in das 3100-Einwohner-Dorf, den einzigen Ort, an dem man legal mit den Tieren schwimmen darf. Inzwischen bieten mehrere Dutzend Veranstalter "Swim with manatees"-Touren an. In Läden warten Plüschmanatis, Seekuh-Tassen, Bettwäsche, Poster und T-Shirts auf Fans der knopfäugigen Sympathieträger. Klar, dass Crystal River inzwischen auch eine Seekuh im Stadtwappen führt, sich den Beinamen "Manati-Welthauptstadt" verliehen hat und es an fast jeder Straße Briefkästen in Seekuhform gibt.

Seekühe sind merkwürdige Stars und, auf den ersten Blick, keine wirklichen Schönheiten. Schmutziggrau, unförmig wie extrem unfitte Robben, kleine Stummelflossen, winzige Knopfaugen und eine dicke knollige Schnauze. Die Tiere sehen sehr schlecht, dafür wachsen auf ihren Körpern mehrere Tausend feine Sinneshaare, mit denen die Tiere kleinste Wasserbewegungen wahrnehmen. Nicht nachvollziehbar, warum Christoph Kolumbus die Seekühe auf einer Karibikreise 1493 als "Meerjungfrauen" beschrieb. Entweder hatten die Seefahrer schon lange keine echten Frauen mehr gesehen oder am Abend vorher zu sehr dem Rum zugesprochen. Der engste Artverwandte der Seekühe ist übrigens der Elefant.

"Das Problem mit den Booten ist, dass die Tiere so langsam, so unbedarft und so neugierig sind"

Über Jahrhunderte hinweg waren die Tiere gejagt worden, wegen des Fleisches, der Haut, der Knochen. Im 20. Jahrhundert brachten die Zerstörung ihrer Lebensräume, die Wasserverschmutzung und Verletzungen durch Schiffsschrauben oder Zusammenstöße mit Booten die Tierart in Florida an den Rand des Aussterbens. In den 1980ern lebten noch gerade mal 1200 Manatis in Florida. Seekuh-Ruhezonen, Tempolimits für Boote und die gesetzlich verankerte "Vorfahrt für Manatis" verringerten die Zahl der Opfer.

Seit drei Jahren gelten die Meeressäuger, die außer dem Menschen keine natürlichen Feinde haben, offiziell nicht mehr als "gefährdet", sondern nur noch als "bedroht". Vielleicht war die Neuklassifizierung jedoch voreilig. Ergab die Zählung 2017 noch 6620 Tiere, so ging die Zahl 2018 auf 6131 zurück. 2019 waren es nur noch 5733 Exemplare.

Die Meeresbiologen sind sich nicht sicher, worauf der Rückgang genau zurückzuführen ist. Hinzu kommt, dass die Zahlen nicht unbedingt exakt stimmen müssen, da sie vom Flugzeug aus erhoben werden. Eine Erklärung könnte der Kältestress sein, er setzt den Seekühen zu. Er ist eine der häufigsten Todesursachen der Spezies. Für Manatis, die im Winter nicht rechtzeitig zu einer Warmwasserquelle gefunden haben, sind bereits einige Tage bei Wassertemperaturen unter 20 Grad gefährlich. Längere Aufenthalte in kaltem Wasser können zum Tod führen.

Seit etwa zwanzig Jahren kommen extrem lange und kalte Winter mit sinkenden Tiefsttemperaturen häufiger vor in Florida. Noch sind die Hintergründe nicht gänzlich erforscht, doch könnte es sein, dass sich, bedingt durch den Klimawandel, der Golfstrom abschwächt, was wiederum zu kälteren Wintertemperaturen in Florida führt. Für den kommenden Winter planen Wissenschaftler daher Experimente mit künstlichen Warmluftquellen an den Winterquartieren der Tiere. In Kältephasen soll die Sonne die Luft über dem Wasserspiegel in "schwimmenden Treibhäusern" erwärmen. Im Winter brauchen Manatis schließlich vor allem Wärme und Ruhe, sie fahren ihren ohnehin niedrigen Stoffwechsel weiter herunter. Jede Kalorie ist dann lebenswichtig.

Hier kommen die Motorboote wieder ins Spiel, denn die Flucht vor den schnellen Booten stresst die Manatis - wenn es ihnen gelingt zu flüchten. Bis heute ist etwa die Hälfte aller Todesfälle bei ausgewachsenen Manatis direkt oder indirekt vom Menschen verursacht, die Dunkelziffer liegt deutlich höher. So auch in diesem Jahr: Bis Mitte September kamen bereits 109 Tiere bei Kollisionen oder durch Schraubenverletzungen ums Leben - 28 Prozent der Gesamttodesrate. Kein Wunder, ziehen doch jede Woche durchschnittlich mehr als 900 Menschen nach Florida, viele von ihnen des Lifestyles am Wasser wegen. Ein Boot für Ausflüge und Angeltouren gehört wie das Auto in der Garage zur Standardausrüstung.

"Das Problem mit den Booten ist, dass die Tiere so langsam, so unbedarft und so neugierig sind", sagt Cindi Guy, 54, ehemalige Bauunternehmerin, die seit fünf Jahren Manati-Touren anbietet, "es macht die Boote zu ihrem Verhängnis. Und genau diese Wesenszüge machen sie auch so liebenswert und attraktiv für Menschen." Kaum einer kann sich der Faszination der plumpen Kolosse entziehen. Ob der Besucherboom auch eine Gefahr für die Tiere darstellt, ist noch nicht klar. "Manatis sind sehr widerstandsfähig. Dennoch müssen wir aufpassen, dass der Tourismus nicht überhandnimmt", mahnt Manati-Expertin und Wildtier-Biologin Amy Teague von der Behörde U.S. Geological Survey. "Das ist kein Streichelzoo, sondern ihr natürlicher Lebensraum."

"Wenn ein Manati auf dich zukommt, ist das seine Entscheidung"

Viele alteingesessene Wassersportler und Fischer im tief konservativen Bezirk von Crystal River - 2016 votierten 68 Prozent der Wähler für Donald Trump - sind allerdings genervt von den Manatis, weil all die Vorschriften den Bootsverkehr verlangsamen. Einer, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will, knurrt: "Wir können uns kaum mehr frei bewegen. Die Regierung scheint das Wohl der Tiere über das Wohl der Menschen zu stellen. Mal ehrlich: Manatis sind komplett nutzlos, außer für die Manati-Industrie."

Aries und Erik Fisher aus Florence ,Massachusetts, kamen vor zwei Jahren das erste Mal nach Crystal River. Sie mieteten sich ein Boot, ließen sich von Cindi Guy zu einer hübsch gelegenen Quelle fahren. Im brusttiefen Wasser stehend, von einigen interessierten Manatis umgeben, steckte Erik den Hochzeitsring an Aries' Finger. Bootsunternehmerin Cindi Guy, die auch eine Heiratslizenz hat, traute die beiden, dann setzte das Neu-Ehepaar die Taucherbrillen auf und schwamm Hand in Hand zu den Manatis. "Es war der beste Tag meines Lebens", sagt Aries, 35. Wegen der Manatis oder wegen der Hochzeit? Aries gibt sich diplomatisch: "Wegen beidem."

Ihr Sohn Ely ist inzwischen eineinhalb Jahre alt. Diesen Winter soll er auch mitkommen, wenn die Fishers nach Florida fahren. "Wir haben in Elys Zimmer Manati-Bilder aufgehängt", sagt Aries, "er liebt sie jetzt schon. Diese Tiere sind Symbole für Sanftheit und Gutmütigkeit. Sie sind ein Vorbild für den Menschen."

Nahe der Quelle Three Sisters Springs versammeln sich um die Mittagszeit sechs Ausflugsboote, sieben Stand-up-Paddler, ein Dutzend Kajakfahrer und etwa 40 bis 50 Menschen in Neoprenanzügen mit knallblauen Schwimmnudeln unter den Armen. Eine an Bojen befestigte Absperrleine markiert, wie weit die Seekuh-Fans schwimmen dürfen. Hinter der Leine ruhen etwa 25 Manatis auf dem Flussboden, man sieht sie gut im kristallklaren Wasser. Von Beobachtungsplattformen aus pfeifen ehrenamtliche Helfer allzu zudringliche Schwimmer zurück.

Immer wieder kommt es vor, dass Teenager versuchen, auf Manatis zu reiten, die sich aus der Schutzzone entfernen. Andere machen Unterwasser-Selfies oder umarmen die gutmütigen Riesen. Vom Ufer aus sehen Pelikane dem bunten Treiben zu. Wären sie Menschen, sie würden wohl die Köpfe schütteln.

Bootskapitän Ed Menster, 49, schwimmt mit seiner zweiten Ausflüglergruppe an diesem Tag an den Leinen entlang. Er weist auf den Manati-Knigge hin: Die Tiere nur mit einer Hand berühren, nicht auf die Tiere zuschwimmen, nicht deren Kopf anfassen. "Passives Beobachten ist okay", sagt er, "wenn ein Manati auf dich zukommt, sich an dir reibt oder mit dir in Kontakt treten will, ist das seine Entscheidung."

Verstöße können zwar mit hohen Geldstrafen, ja sogar Gefängnis geahndet werden, dennoch fällt es den Schwimmern schwer, sich an die Regeln zu halten. Zu groß ist das Erstaunen, die Freude, die Begeisterung darüber, dass die riesenhaften, harmlosen Lebewesen tatsächlich mit Menschen scheinbar interagieren wollen. Die Tiere erforschen die Neoprengeschöpfe, dümpeln neben den Schwimmern oder rollen sich schon mal auf den Rücken, um sich den Bauch kraulen zu lassen, ein wenig wie eine Katze oder ein Hund. "Was früher Teddybären waren", sagt Menster zwischen zwei Schnorchelgängen, "das sind heute die Manatis." Nachdenklich fügt er hinzu: "Ohne die wären hier schon lange die Lichter ausgegangen."

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