Süddeutsche Zeitung

Science Marches:"Zu Fakten gibt es keine Alternative"

Hunderttausende demonstrieren weltweit bei den "Science"-Märschen für die Freiheit der Forschung, die Bedeutung der Wissenschaft für die Demokratie und die Zukunft des Planeten Erde.

Von Kathrin Zinkant

Es ist womöglich eine Eigenheit Berlins, dass selbst Großereignisse mit großer Unauffälligkeit daherkommen. Zwischen Dutzenden von Touristen auf dem Bebelplatz in Mitte stehen am Samstagmittag also drei junge Leute herum, mit suchendem Blick und einem Schild unterm Arm. "GMO save lives", gentechnisch veränderte Organismen retten Leben, steht darauf. Lediglich ein Banner am Zaun der gegenüberliegenden Universität lässt erahnen, dass das Trio sich nicht verlaufen hat. "March for Science" steht darauf,Marsch für die Wissenschaft. In einer Stunde soll er beginnen.

Auch in der Antarktis halten Wissenschaftler Plakate in Kameras und beziehen Stellung

Und er hat begonnen, nicht nur in Berlin. Zum ersten Mal in der Geschichte sind am Wochenende an mehr als 600 Orten auf der Welt Hunderttausende Menschen für die Wissenschaft auf die Straße gegangen. Ihr Ziel: Aufmerksamkeit für den Wert der Wahrheit erzeugen, Solidarität mit unterdrückten Forschern bekunden und die Bedeutung der freien Wissenschaft für die Gesellschaft verdeutlichen. Den Anfang hatte in der Nacht Neuseeland gemacht. In Paris marschierten am Samstag 5000 Menschen für die Freiheit der Forschung, in London versammelten sich mehr als 10 000 Demonstranten. Die Zahl der Demonstranten in der US-Hauptstadt Washington steht bislang noch nicht offiziell fest, einige Beobachter sprechen von Zehntausenden. Selbst in der Antarktis hielten Wissenschaftler der Neumayer-Station ein Banner in die Kamera, um für die Freiheit der Forschung einzustehen. In Deutschland waren 20 Märsche geplant, in München nahmen etwa 3000 Bürger und Wissenschaftler an den Protesten teil.

Am Samstagmittag in Berlin bleibt zunächst noch unklar, wie viele es in der Hauptstadt sein werden. Die Organisatoren hoffen auf 1000 Teilnehmer, aber es ist kalt, windig, am Vormittag hat es gehagelt. Eine halbe Stunde vor der ersten Kundgebung sind erst etwa 400 Menschen im Hof vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Universität versammelt, eingepackt in regenfeste Kleidung. Wer hier Wissenschaftler ist oder Bürger, lässt sich nicht erkennen, und so soll es sein: Es ist kein Marsch von Wissenschaftlern, sondern einer für die Wissenschaft. Das haben die Veranstalter deutlich gemacht.

Entstanden war die Bewegung im Januar in den USA, als Reaktion auf den neuen Präsidenten: Donald Trump und sein Stab leugnen die Erderwärmung, die Evolutionslehre und die Wirksamkeit von Impfungen. Als nach Trumps Einzug ins Weiße Haus Informationen zum Klimawandel von den Webseiten der Regierung verschwanden, Wissenschaftler aufgrund ihrer Herkunft nicht in die USA einreisen durften und Lügen als "alternative Fakten" deklariert wurden, formierte sich in den sozialen Netzwerken die Science-March-Initiative. Wenige Tage später tat sich auch in Berlin eine kleine Gruppe von Forschern, Studenten und Nichtwissenschaftlern zusammen, um einen Marsch für die Wissenschaft zu organisieren.

Als der Vizepräsident der Humboldt-Universität zur ersten Kundgebung anhebt, ist die Gruppe im Ehrenhof der Universität deutlich gewachsen. Bis weit auf die Straße drängen sich die Leute, schwenken Fähnchen und recken die Hälse, um Ludwig Kronthaler zu verstehen. Der Jurist wird nicht der Letzte sein, der heute die Grundwerte der Wissenschaft beschwört: die Freiheit des Denkens, eine auf Wahrheit ausgerichtete Suche nach Erkenntnis und die Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Es sind tragende Worte, doch Kronthaler spricht vielen Menschen hier aus der Seele.

Ilona zum Beispiel. Sie ist Lehrerin für Mathematik und Physik in Berlin. Sie sagt: "Wir haben den Gedanken der Aufklärung zu lange für selbstverständlich genommen." Es mache ihr Angst, wie leicht sich durch Lügen Realitäten in den Köpfen schaffen lassen, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben. Ilona ist besorgt, doch die Stimmung bleibt ausgelassen. Plakate werden hochgehalten, selbstgemachte T-Shirts vorgezeigt. Eine Frau hält eine Spraydose in der Hand, auf der "Anti-Bullshit-Spray" steht. Ein Stück weiter trifft man Hannah, eine Kanadierin. Auf ihrem Schild steht: "Frag mich nach Termiten!", und mit größter Begeisterung erzählt sie von ihrer Forschung an den kleinen Insekten. Auch Kinder haben Plakate gebastelt. "Secure my future with science" steht auf einem, sichert meine Zukunft mit Wissenschaft. Auf die Rückseite hat das kleine Mädchen ein Mikroskop gemalt. Darüber ein Herz.

In Berlin nehmen 11 000 Menschen am "March for Science" teil

Als der Marsch sich um 13.30 Uhr Richtung Brandenburger Tor bewegt, geht der Regierende Bürgermeister und Wissenschaftssenator von Berlin, Michael Müller, an der Spitze. Sein Engagement stößt nicht nur auf Begeisterung, manche sehen es kritisch, wenn Politiker sich auf den Science-Märschen womöglich in Szene zu setzen versuchen. Müller ist sich dessen bewusst, aber er fühlt sich verpflichtet. Vor dem Marsch sagte er der Süddeutschen Zeitung, es sei keine Frage der Parteipolitik, sondern eine Frage der Demokratie, sich für die Freiheit der Wissenschaft einzusetzen. "Wenn es politische Kräfte gibt, die Wissenschaft einschränken wollen, muss es auf der anderen Seite politische Kräfte geben, die sich für Wissenschaft starkmachen."

Also schreitet Müller vorneweg, in einer Reihe mit dem Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar, dem Präsidenten der Leibniz-Gemeinschaft, Matthias Kleiner, und dem Präsidenten der Helmholtz-Gemeinschaft, Otmar Wiestler. Gemeinsam tragen sie das Banner des Marsches: "Zu Fakten gibt es keine Alternativen".

Der Bezug auf den Begriff der "alternativen Fakten", mit dem Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway versuchte, Lügen zu rechtfertigen - er soll heute nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in Europa große Probleme gibt. In der Türkei sind Hunderte Wissenschaftler an den Universitäten entlassen und viele von ihnen verhaftet worden. Und als der Marsch die ungarische Botschaft erreicht, wenige Hundert Meter vor dem Brandenburger Tor, hält die Menge an und ruft: "We stand with CEU", wir stehen zur Central European University. Die Budapester Privatuniversität gilt als intellektuelles Zentrum und als eine der international vielfältigsten Hochschulen der Welt. Vor wenigen Wochen hat Ungarns Präsident Viktor Orbán ein neues Hochschulgesetz verabschiedet, das die Schließung der CEU besiegeln soll.

"An meiner Aussprache habt ihr vielleicht bemerkt, dass ich nicht in Deutschland aufgewachsen bin", sagt Vladislav Nachev. Der Marsch hat das Brandenburger Tor erreicht, neue Schätzungen gehen von 5000 Teilnehmern aus, die zweite Kundgebung beginnt. Nachev hat den Marsch mitorganisiert, er ist Bulgare, Verhaltensbiologe und "ein typischer Wissenschaftler", wie er sagt. Das heißt, er hat in vielen Ländern studiert und mit Menschen zahlreicher Nationalitäten gearbeitet. "Wissenschaft ist ein globales Projekt", sagt Nachev. "Internationale Zusammenarbeit ist unersetzlich." Man dürfe nicht zulassen, dass an den Grundfesten der Erkenntnis gerüttelt wird. "Wer wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnt oder die wissenschaftliche Freiheit unterdrückt, gefährdet Menschen. Egal, in welchem Land sie leben."

Ranga Yogeshwar, der als Moderator der Sendung "Quarks & Co." bekannt geworden ist, fordert die Menge schließlich auf: "Bekämpft die Angst mit den Fakten." Und als fast zum Schluss Michael Müller auf die Bühne tritt, wird auch noch dem letzten Mitmarschierenden klar, warum in Berlin heute nicht 1000, nicht 5000, sondern 11 000 Menschen für die Freiheit der Wissenschaft auf die Straße gegangen sind. Berlin habe im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen und eine Spaltung erlebt, sagt Müller. "Wir Berliner wissen aus unserer eigenen Geschichte, was die Unterdrückung der Freiheit bedeutet. Deshalb tragen wir eine besondere Verantwortung, uns für eine freie Wissenschaft und eine weltoffene und tolerante Gesellschaft einzusetzen."

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SZ vom 24.04.2017
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