Schweinegrippe in Deutschland:Viren und Wirren

Impfen oder nicht impfen? Die Fachleute sind ratlos. Sprachlos sind sie nicht. Die medial verbreitete Konfusion verstärkt die Unsicherheit der Bevölkerung.

Werner Bartens

Und täglich kommen die gleichen Fragen: Soll man sich gegen Schweinegrippe impfen lassen oder nicht? Wie groß ist die Gefahr durch die H1N1-Viren tatsächlich? Ist die Impfung das größere Risiko oder die Erkrankung? Täglich gibt es neue Berichte über die Schweinegrippe und täglich wird die Verwirrung größer. Die einzig sicheren Antworten, die man derzeit geben kann, sind Worthülsen der Unsicherheit: Wie gefährlich die Schweinegrippe wird, vermag niemand zu sagen.

Schweinegrippe

Zwiespältige Faktenlage: Keiner weiß mit Sicherheit, ob die Schweinegrippe oder die Impfung schlimmer sind.

(Foto: Foto: Reuters)

Pandemiepläne sind gut und schön, schützen aber nicht davor, falls die Krankheit zur Killer-Seuche mutieren sollte. Die Impfstoffe sind wenig erprobt; sie könnten sich schon bald als ziemlich sicher oder auch als mit starken Nebenwirkungen behaftet erweisen.

Niemand weiß es genauer. Wer anderes vorgibt, ist ein Scharlatan. Auch die Fachleute sind ratlos. Sprachlos sind sie nicht. Das Land scheint nur noch aus Seuchenexperten zu bestehen. Für jeden Risiko-Typen findet sich die passende Aussage. Dabei widersprechen sich die Fachleute munter gegenseitig, manchmal sogar ihren eigenen Aussagen. Das Ringen um die richtige Einschätzung ist für eine wissenschaftliche Diskussion fruchtbar. In der besorgten Öffentlichkeit, die vor der Frage steht, sich impfen zu lassen, verstärkt das Wirrwarr der Meinungen hingegen Unsicherheit und Angst.

Mancher Beobachter wendet sich desinteressiert ab angesichts der Kakophonie der Experten und beschließt, die Schweinegrippe zu ignorieren - was nicht die ungesündeste aller Entscheidungen ist.

Die Widersprüche sind grotesk: Der Boulevard zerrte Adolf Windorfer aus dem Ruhestand. Der ehemalige Leiter des Landesgesundheitsamtes Niedersachsen ließ sich am 21. Oktober die Prognose von 35.000 Toten durch die Schweinegrippe entlocken. Zur selben Zeit stellte das für Seuchenbekämpfung zuständige Robert-Koch-Institut (RKI) fest: "Die Erkrankung verläuft bislang häufig mild." Im Arzneimittelbrief, von Wolf-Dieter Ludwig, dem Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft mitherausgegeben, stand: "Die vorliegenden Daten zeigen, dass die Schweinegrippe deutlich milder verläuft als eine saisonale Influenza."

Dann wurden die Toten gezählt. Bis zum 29. Oktober waren drei Todesfälle in Deutschland bekannt, die mit der Schweinegrippe in Verbindung standen. Am 30. Oktober starb ein Jugendlicher in Bayern. Er litt unter Vorerkrankungen. Am selben Tag teilte die Uniklinik Bonn mit, dass eine 48-jährige Frau an Schweinegrippe gestorben ist. Außer Bluthochdruck war bei ihr keine Erkrankung bekannt. Ebenfalls am 30. Oktober wurde aus dem Saarland berichtet, dass ein fünfjähriger Junge mit chronischem Lungenleiden der Schweinegrippe zum Opfer fiel. Damit erhöht sich die Zahl der Toten in Deutschland auf sechs.

Die Bevölkerung reagiert wie der Wechselwähler

Sechs Todesfälle sind sechs zu viel und es kann zynisch wirken, sie gegen andere aufzurechnen. Um das Risiko einzuordnen, müsste man dennoch neben die täglichen Meldungen zur Schweinegrippe die täglichen Opferzahlen der konventionellen Grippe stellen. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Jedes Jahr sterben an der saisonalen Influenza in Deutschland 5000 bis 12.000 Menschen - darunter Kinder ohne Vorerkrankungen. An Allergien gegen Wespenstiche sterben jährlich in Deutschland 30 Menschen.

Aber wer traut sich, angesichts der täglichen Zahlen der Kranken und Toten zu sagen: Es ist bisher nicht so schlimm gekommen? Am Montag erklärte RKI-Präsident Jörg Hacker in Berlin: "Die Welle, die wir für den Herbst erwartet haben, hat begonnen." Zur Impfung äußerte er sich unerwartet defensiv - "jeder muss selbst wissen, wie er sich zu der Impfung verhält".

Der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, riet zur Impfung, denn "unsere Chance, eine Viruserkrankung auszurotten, liegt darin, das Virus nicht zur Ausbreitung kommen zu lassen. Deshalb ist es sozialmedizinisch richtig, möglichst viele Menschen zu impfen."

Ärzte wissen es auch nicht besser als Funktionäre und Politiker: Der Präsident der Internisten, Wolfgang Wesiack, kritisierte seine Kollegen als schlechte Vorbilder: "Wenn sich die Ärzte nicht impfen lassen, kann man nicht erwarten, dass die Bevölkerung sich mehrheitlich impfen lässt." Ob Wesiack damit Michael Kochen meinte? Der Präsident der Allgemeinmediziner bietet in seiner Praxis keine Impfung an und wird sich auch nicht mit Pandemrix, dem Impfstoff für die Bevölkerung, impfen lassen.

Bayerns Hausärztechef Wolfgang Hoppenthaller hatte noch am 23. Oktober erklärt, dass er die Impfung nicht empfehle. Seit dieser Woche rät er nun doch zur Impfung, was ausnahmsweise wohl nichts mit den Hausarztverträgen zu tun hat, die er mit der AOK geschlossen hat.

Laien wissen nicht, welchen Experten sie trauen können. Und die Experten wissen häufig nicht, was sie meinen sollen. Die Bevölkerung reagiert wie der Wechselwähler, der erst am Tag der Wahl entscheidet, wo er sein Kreuz macht. Nachdem über die Todesfälle und die "zweite Welle" berichtet wurde, stieg der Andrang vor Impfpraxen - einerseits. Andererseits sagte Wolf-Dieter Ludwig am Montag im Radio, dass mit der Bedrohung durch die Schweinegrippe "sehr, sehr hysterisch" umgegangen werde.

Nun ist der erste Fall eines anaphylaktischen Schocks mit Kreislaufstillstand nach der Impfung bei einem 30-Jährigen in Düsseldorf bekannt geworden. Schweden meldet fünf Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung. Vermutlich wird dies die Impfskepsis wieder erhöhen. Bis zur nächsten Welle - egal, ob sie durch Viren oder Experten ausgelöst wird.

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