Auch nach einem halben Jahr Corona-Pandemie sind viele Fragen noch unbeantwortet. So ist unklar, warum manche Menschen kaum etwas von einer Infektion mit Sars-CoV-2 bemerken, während andere schwer erkranken oder sterben. Das Alter und Vorerkrankungen spielen zwar eine wichtige Rolle, aber diese Faktoren erklären nicht, warum manche sportlichen 50-Jährigen schwere Verläufe erleiden, während andere Gleichaltrige nicht mal bemerken, dass sie infiziert sind.
Immunologen aus den USA zeigen im Fachmagazin Science, dass es womöglich eine Form der Hintergrundimmunität gibt, die manche Menschen teilweise oder ganz vor schweren Formen von Covid-19 schützt. Infektionsexperten um Jose Mateus vom Forschungsinstitut in La Jolla und der Universität San Diego vermuten, dass die Immunabwehr von 20 bis 50 Prozent der Bevölkerung auf die Erreger vorbereitet sein könnte. Sie verfügen über spezifische Zellen im Immunsystem, die Sars-CoV-2 unschädlich machen. Ob jemand schwer erkrankt, einen leichten Verlauf hat oder gar asymptomatisch bleibt, könnte von zwei Faktoren abhängen: der Viruslast, also der Menge der aufgenommenen Erreger, und dem Immunstatus - das heißt, wie gut das Abwehrsystem auf Sars-CoV-2 vorbereitet ist.
Die Forscher hatten Blutproben von Probanden aus dem Jahr 2019 untersucht, von denen klar war, dass sie keinen Kontakt zum neuartigen Coronavirus hatten. Zudem identifizierten sie 142 Bruchstücke des Erregers, die das Immunsystem als fremd erkennt. Dabei zeigte sich, dass sogenannte T-Zellen, die einen wichtigen Teil der zellulären Immunantwort ausmachen, stark auf die Virenbestandteile reagierten. T-Zellen sind in der Lage, an infizierte Zellen zu binden und sie zu zerstören. Diese Immunantwort ist nicht vom Vorhandensein von Antikörpern abhängig.
Die Impfstoffsuche konzentriert sich auf das Spike-Protein - doch das Virus bietet noch mehr Ziel
Die Laborversuche zeigten, dass im Blut von 20 bis 50 Prozent der Probanden T-Zellen vorhanden sind, die Sars-CoV-2 vernichten können. Die Wissenschaftler erklären sich dieses Phänomen damit, dass ein Teil der Menschen zuvor Kontakt zu Erkältungserregern aus der Gruppe der Coronaviren hatte. Während einer Infektion mit Sars-CoV-2 kommt es dann zu einer Kreuzreaktion der T-Zellen. Vorbereitet durch den Kontakt mit diesen harmlosen Erkältungsviren sind sie in der Lage, auch das neuartige Coronavirus in Schach zu halten.
Unter Hunderten von Viren, die einen grippalen Infekt oder eine Erkältung auslösen können, stammen vier bekannte Vertreter aus der Corona-Gruppe, die Ähnlichkeit mit Sars-CoV-2 aufweisen, abgekürzt als HCoV-OC43, HCoV-229E, HCoV-NL63 und HCoV-HKU1. Wer sich mit diesen Viren infiziert hatte, verfügt demnach über eine gewisse Hintergrundimmunität. Die Reaktion der schützenden T-Zellen auf harmlose Coronaviren und auf Sars-CoV-2 ist laut der Studie ähnlich. "Wir konnten sehen, dass zahlreiche T-Zellen, die auf Bestandteile von Sars-CoV-2 reagieren, auch auf die üblichen zirkulierenden Coronaviren kreuzreagieren, die Erkältungen auslösen", so die Autoren. "Dies könnte erklären, warum Patienten mit Covid-19 so unterschiedliche Verläufe haben."
Aus der Analyse in Science lassen sich zudem wichtige Rückschlüsse für die Impfstoffentwicklung ziehen. Von den 142 untersuchten Bruchstücken des Virus, auf die sich die T-Zellen in ihrer Abwehrarbeit stürzten, gab nicht nur das Spike-Protein ein attraktives Ziel ab, sondern auch andere Bestandteile des Erregers. Fast alle Bestrebungen, Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 zu finden, konzentrieren sich bisher jedoch auf den Spike und damit jene Bindungsstelle, über die das Virus Zellen entert. Offenbar gibt es andere lohnende Angriffsziele, um Sars-CoV-2 zu attackieren.
Das Konzept der Hintergrundimmunität durch Kontakt mit Erkältungsviren wurde bereits im April von Berliner Wissenschaftlern um Andreas Thiel und Christian Drosten diskutiert und auf einem Preprint-Server veröffentlicht. Die entsprechende Untersuchung wurde Ende Juli im Fachmagazin Nature publiziert. Die Forscher fanden hilfreiche T-Zellen als Reaktion auf eine Infektion bei 83 Prozent der Probanden mit Covid-19. Unter den Probanden, die gesund waren und nachweislich keinen Kontakt mit Sars-CoV-2 hatten, wiesen immerhin 35 Prozent kreuzreagierende T-Zellen auf, die vermutlich auf eine Auseinandersetzung mit den Erkältungsviren aus der Corona-Familie zurückzuführen sind. "Diese Viren machen ungefähr 20 Prozent aller banalen Erkältungen aus, sind sehr verbreitet und kommen vor allem im Winter vor", schreibt das Team um Thiel und Drosten. "Alle zwei, drei Jahre stecken sich Erwachsene im Mittel damit an. Während die Antikörper womöglich mittelfristig verschwinden, könnte die zelluläre Immunität bleiben."
Diese Schlussfolgerung und die Erkenntnisse aus Nature und Science zeigen zudem, dass es zu einfach wäre, sich nur auf die Antikörper in der Seuchenbekämpfung zu konzentrieren. Während diese sogenannte humorale Immunität von unklarer Dauer ist, weil unbekannt ist, wie lange die Antikörper im Blut zirkulieren, ist die durch T-Zellen vermittelte zelluläre Immunität mindestens so wichtig - und langfristig stabiler. Dazu passt eine Beobachtung von Immunologen der University of Iowa. Sie konnten zeigen, dass nach dem Ausbruch von Sars-CoV-1 im Jahr 2002, nach dem Ausbruch von Mers ab 2012 und vermutlich auch im aktuellen Fall von Sars-CoV-2 die Bildung von Antikörpern schwankend war - die T-Zellen-Antwort jedoch weitgehend konstant blieb.