Schreiben lernen:Das große Buchstaben-Rätsel

Schreiben zu lernen ist eine der schwierigsten Aufgaben für Kinder. Die Zahl der Lehrmethoden ist fast so groß wie die der Schulklassen. Experten antworten auf die häufigsten Fragen zum Schulbeginn.

C. Schrader, N. Schmidt, C. Weber

Gut 700.000 aufgeregte Kinder erleben in diesen Wochen ihren ersten Schultag - als Letzte kommen am Dienstag die Erstklässler in Bayern dran. "i-Männchen" werden sie gern genannt, weil früher der Unterricht im Schreiben oft mit diesem Buchstaben anfing. Wie lernen Kinder heute Schreiben?

Grundschulkind in NRW

Ohne Fehler und Hilfslinien: Schüler sollen zum Ende der Grundschule eine persönliche Handschrift entwickeln.

(Foto: dpa/dpaweb)

Die Vielfalt der Lehrmethoden in Deutschland ist kaum kleiner als die Zahl der Schulklassen: Die 16 Bundesländer haben 13 verschiedene Lehrpläne, viele überlassen den Kollegien oder gar einzelnen Lehrerinnen die letzte Entscheidung, wie Kinder Lesen und Schreiben lernen. Es existieren drei etablierte Handschriften-Systeme und diverse Druckschriften. Es gibt Dutzende Fibeln, Sammlungen von Arbeitsblättern, Hefte verschiedener Lineaturen sowie Stifte jeder Art und Größe. Es kann passieren, dass ein Kind in Sachsen-Anhalt in der zweiten Woche seiner Schulzeit mit dem Füller ganze Zeilen mit einzelnen Schönschrift-Buchstaben füllt, während Erstklässler in Bayern mit dem Bleistift Blockschrift-Lettern nachzeichnen. In Stuttgart oder Bremen erleben befreundete Elternpaare womöglich, wie ihre Kinder in benachbarten Schulsprengeln andere Schreibschriften erlernen.

Welche Schrift sollen die Kinder erlernen?

Es ist Zeit, Übersicht in diesen Buchstabensalat zu bringen und einen Überblick zu geben, wie Kinder in den ersten Schuljahren das Schreiben erlernen.

Fast alle Bundesländer sehen als erste Schrift eine Druckschrift aus unverbundenen Buchstaben vor, einzig Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt lassen das offen. Druckschrift hat einige Vorteile, sagen Pädagoginnen. "Die Kinder sehen im Alltag vor allem Druckschrift", sagt Christina Mahrhofer-Bernt, die an einer Sonderschule in Landshut arbeitet und einen Lehrauftrag an der Universität München hat. "Sie können das Erlernte also schneller anwenden." Außerdem fällt ihnen bei unverbundenen Buchstaben der grundsätzliche Lernschritt am Anfang des Schreiben-Lernens leichter, ergänzt Eva Lang vom bayerischen Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (ISB) - dass nämlich einzelne Zeichen für einzelne Klänge stehen. "Wörter nach Lauten zu untergliedern, ist für Kinder schwierig. Wenn sie diese Laute durch Buchstaben darstellen sollen, ist eine unverbundene Schrift einfacher zu verwenden."

Eine verbundene Schreibschrift folgt meist erst in der zweiten Klasse. In deutschen Schulen sind drei verschiedene Varianten verbreitet. Die traditionelle lateinische Ausgangsschrift (LA) mit ihren großzügigen Schwüngen an Großbuchstaben, die in den 1970er-Jahren im Westen entwickelte Vereinfachte Ausgangsschrift (VA) und die in der DDR entworfene Schulausgangsschrift (SAS). In jedem Fall sollen Schüler daraus eine individuelle Handschrift entwickeln, daher die Bezeichung "Ausgangsschrift".

Welche der drei Schriften wo vorgeschrieben, bevorzugt oder empfohlen wird, hat jahrzehntelangen Streit bis in die Schulkollegien ausgelöst. Besonders an der VA schieden sich im Westen die Geister. Sie opfert die vielen Erwachsenen vertraute Ästhetik geschwungener Handschrift der einfacheren Erlernbarkeit. Fast alle Buchstaben beginnen und enden oben an der Mittellinie der Heftzeile. Bei beiden Konkurrenzprodukten variiert das, sodass Kinder neben den Lettern auch noch deren Verbindungen lernen müssen - bei der LA waren es fast so viele, wie es Buchstaben gibt.

In der Vereinfachten Ausgangsschrift lassen sich Buchstaben wie in einer Druckschrift aneinander schieben; umgekehrt können die Kinder die Lettern im Wort einfacher erkennen. Außerdem verlangt diese Schrift weniger Wechsel in der Bewegungsrichtung und weniger Deckstriche, bei denen die Schüler, etwa beim "c" einen Bogen zweimal deckungsgleich entlang fahren müssen.

Diese Argumente für die VA hatten nach ihrer Veröffentlichung viele Lehrer überzeugt, doch Belege dafür, dass die Schrift den Kindern tatsächlich Vorteile bringt, gibt es nicht. Ohnehin fällt strenge Empirie in der Grundschule schwer. In Bayern zum Beispiel wurde im Jahr 2000 mit der Vereinfachten Ausgangsschrift auch eine neue Didaktik eingeführt, sodass sich der Einfluss der Schrift allein kaum nachweisen ließe.

Bayern ist das einzige Bundesland, das diese Schrift vorschreibt; Schleswig-Holstein und Hessen weisen ihr Vorrang zu, in Baden-Württemberg sollen sich die Lehrerkollegien zwischen VA und LA entscheiden. Hingegen legen sich Hamburg, das Saarland, Sachsen und Sachsen-Anhalt auf die Schulausgangsschrift fest. Die anderen Länder machen entweder keine Vorgabe oder sagen, die Handschrift der Kinder solle sich aus der zuerst erlernten Druckschrift entwickeln.

Welche Didaktik ist sinnvoll?

Von der Verbindung der Buchstaben zum durchgeschriebenen Wort erwarten sich die Experten zweierlei: erstens eine flüssige, routinierte Schrift und zweitens ein erhöhtes Schreibtempo. Christina Mahrhofer-Bernt wirbt jedoch dafür, auch Zwischenräume innerhalb der Wörter zu akzeptieren. "Erfahrene Schreiber verbinden nie mehr als zwei oder drei Buchstaben, bei denen die Bewegungsrichtung gut zusammenpasst, bevor sie den Stift vom Papier heben und eine kleine Pause machen." Das beuge dem Verkrampfen der Hand vor.

Graphik Schreibschriften Grundschulen

In deutschen Grundschulen verwendete Schreibschriften

(Foto: SZ Graphik)

Welche Didaktik benutzen die Schulen beim Schreib-Unterricht?

Fast alle Bundesländer haben ihre Lehrpläne im vergangenen Jahrzehnt überarbeitet. "Bei der Neuentwicklung von Lehrplänen werden nicht mehr die einzelnen Lernschritte vorgeschrieben, sondern die Kompetenzen definiert, die die Kinder bis zum Ende der zweiten oder vierten Klasse erreicht haben sollen", sagt Susanne Grupp-Robl vom ISB in München. Die Wege dahin werden zunehmend freigegeben.

Lesen und Schreiben sind dabei eng verwandte Techniken, die im Gleichschritt gelernt werden. Dabei kann sich der Fortschritt an beiden Gebieten ausrichten. Eher lese-orientiert ist der Unterricht, sagt Eva Lang vom ISB, wenn die Kinder die Buchstaben der Reihe nach erarbeiten und einüben, beginnend oft mit dem "i" und dem "m". Das schränkt anfangs die Auswahl sinnvoller Wörter stark ein. "Mimi ist ein" steht dann in der Fibel, und dahinter die Zeichnung eines Schuhs. Auch wenn Kinder an solchem Unsinn viel Freude haben, bremst dieser Ansatz diejenigen, die schon mehr Buchstaben gelernt haben und sie noch nicht benutzen dürfen.

Eher schreiborientiert ist der Umgang mit der Anlauttabelle. Jeder Buchstabe wird hier mit zwei Bildern von Tieren oder Gegenständen verbunden. Die Kinder sprechen sich ein gesuchtes Wort immer wieder vor, lauschen auf die Laute und suchen nach Entsprechungen. Eine "Pflaume" können sie sich so mit Hilfe von Fisch, Löwe, Auto, Mond und Esel zusammensetzen - und verkürzen dabei oft das schwer zu hörende "Pf".

Was muss in Arm und Kopf der Kinder passieren?

Schreiben ist eine Aufgabe für die Feinmotorik der Handgelenke und Finger; es gilt unter Forschern als eine der feinsten Koordinationsleistungen des Menschen. Die deutsche Schrift führt von links nach rechts und von oben nach unten. Schon um dieses Konzept umsetzen zu können, müssen Kinder in der Lage sein, einen Raum - oder ein Blatt Papier - zu strukturieren.

Wer seinen Nachwuchs darauf vorbereiten möchte, schicke ihn hinaus zum Toben, das schult die Motorik. Wenn Kinder bei der Einschulung nicht rückwärts gehen, auf einem Bein stehen oder hüpfen können, wirkt sich dies unmittelbar darauf aus, wie schwer sie sich im Umgang mit Stift und Papier tun. Schon Babys lernen beim Spiel mit den eigenen Füßen, ihre Hände zu benutzen und sich im Raum zu orientieren. Balancieren oder Kneten - das alles bereitet Gehirn und die Auge-Hand-Koordination darauf vor, später den komplexen Schreibprozess zu bewältigen. Das Kind lernt zu unterscheiden, welchen Druck seine Hand ausübt. Richtungen im Raum können Kinder im Prinzip zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr zuordnen.

Doch immer mehr Kindern fallen schon einfache Bewegungsabläufe schwer. Bei einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse DAK gaben Kinderärzte an, dass sie vor allem bei Drei-bis-Fünfjährigen zunehmend Koordinationsschwierigkeiten, mangelnde Beweglichkeit und Probleme mit dem Balancieren, Rückwärtslaufen oder Fangen eines Balles beobachten.

Wie lernen Linkshänder schreiben?

Menschen lernen Bewegungsabläufe von "proximal nach distal", sagen Gehirnforscher, also von den großen Gelenken zu den kleinen. Schreibanfänger bewegen daher vor allem das Handgelenk und weniger die Finger. Geben die Schreibhefte kleine Buchstaben vor, führt dies häufig zu Problemen, weil die Koordination von kleinräumigen Fingerbewegungen noch nicht ausreichend ist.

Welche Stifte brauchen die Schüler?

Das erste Schreibgerät ist meist ein Bleistift. Das hat vor allem pragmatische Gründe: Anfangs können die Kinder den Druck auf den Stift nicht gut regulieren, was beim Bleistift am wenigsten Probleme macht. Er verbiegt nicht, außerdem fließt aus ihm keine Farbe nach, wenn das Kind mitten im Buchstaben oder zwischen den Lettern eine Pause macht. Füller werden meist erst in der zweiten Klasse eingesetzt. Die Kinder machen dann oft einen "Füllerführerschein", und sind sehr stolz, einen weiteren Meilenstein der Bildung genommen zu haben. "Die Verwendung des Füllers setzt bereits eine flüssige Handschrift voraus. Wegen der Ausrichtung der Feder gängelt er die Hand zudem stärker", sagt Eva Lang vom ISB.

Die Kinder experimentieren aber mit vielerlei Geräten. Geht es bei einer Übung eher um die Form eines Buchstabens, können sie ihn auch mit dem Radiergummi auf den Tisch malen oder mit dem Finger auf den Rücken eines Mitschülers. Hier kann die erhöhte Reibung zwischen Stift und Unterlage die Kontrolle über die Bewegung verbessern. Sollen die Kinder lernen, den Schreibdruck zu regulieren, sind vielleicht Filzstifte eine gute Wahl, weil die Kinder sie als wertvollen Besitz ansehen und bewahren wollen. Ist schließlich die Automatisierung der Schreibbewegung das Ziel, sollte der Stift leicht über das Papier gleiten können.

Wie lernen Linkshänder schreiben?

Linkshändige Kinder müssen eine andere Schreibhaltung einnehmen als Rechtshänder, um das Geschriebene sehen zu können und Tinte nicht zu verwischen. "Sie sollten das Blatt nach rechts kippen und die Hand unterhalb der Zeile halten", rät Johanna Sattler, Psychotherapeutin und Leiterin der Ersten deutschen Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder in München. Auf keinen Fall dürfen diese Kinder die "Hakenhaltung" lernen, bei der sie um die Zeile herumgreifen und den Stift von hinten auf das Papier drücken. Dies kann zu Verspannungen führen.

Viele linkshändige Kinder würden lieber Spiegelschrift schreiben. Die Schüler schreiben daher häufig einzelne Buchstaben oder ganze Worte spiegelverkehrt, dies sollte sich aber im Laufe der ersten Klasse legen. Lehrpläne verbieten ausdrücklich, die Händigkeit der Kinder zu korrigieren. Denn dies löst eine Reorganisation im Gehirn aus. Eine Studie von Stephan Klöppel von der Universität Freiburg hat gezeigt, dass umgeschulte Linkshänder ihre Hirnaktivitäten zwar auf die andere Seite verlagern, jedoch viel mehr Aufmerksamkeit aufwenden müssen, um ihre Hände zu koordinieren, weil die Planungsprozesse in der ursprünglichen Hemisphäre bleiben. Bei vielen Umgeschulten sind Konzentrationsstörungen oder Probleme mit der Feinmotorik die Folge.

Eltern können schon oft bei ein- bis zweijährigen Kindern feststellen, ob sie Linkshänder sind. Die Kinder greifen häufiger mit der linken Hand nach Gegenständen, essen oder malen mit links. Das sollten Mütter und Väter unterstützen, indem sie zum Beispiel für Spielzeug sorgen, das sich von beiden Seiten gut bedienen lässt. Auch im Kindergarten sollten sie darauf achten. "Oft gibt es hier keine guten Linkshänder-Scheren, alle Bastelvorlagen sind besser von rechts herauszuschneiden und so weiter", sagt Sattler. "Das linkshändige Kind wird benachteiligt und manche Kinder schulen sich dann von selbst um, ohne dass man es wirklich merkt."

Wann sollen Lehrer und Eltern die Rechtschreibung korrigieren?

Auf vielen Elternabenden beschweren sich erboste Väter oder Mütter über die schlechte Rechtschreibung ihrer Kinder: Warum korrigiere niemand die Fehler in den Schulheften? Die Lehrerin muss dann erklären, dass sich das Schreibenlernen innerhalb einer Generation stark verändert hat: Heute geht es vor allem darum, dass die Kinder vom ersten Schultag an erfahren, dass sie ihre eigenen Wörter lautgetreu schreiben können. "Kinder dürfen anfangs phonetisch schreiben", sagt Eva Lang vom ISB. "Wenn sie verstanden haben, dass meist ein Buchstabe für einen Laut steht, lernen sie die Ausnahmen, zum Beispiel, dass manche Laute durch zwei oder drei Buchstaben verschriftet werden." Korrigiert wird im ersten Schuljahr kaum. Je nach Leistungsstand des Kindes werden dann die Regeln zum Richtigschreiben nur langsam vermittelt, oft wenn Texte für die öffentliche Präsentation überarbeitet werden. Eltern sollten nicht versuchen, dem vorzugreifen und Rechtschreibung pauken. Damit richteten sie eher Unheil an, so Pädagogen, weil Kinder durch ständige Kritik und Belehrung den Spaß am Schreiben verlieren.

Wozu brauchen Kinder überhaupt noch eine Handschrift?

Im Alltag haben elektronische Geräte mit Tastatur die Handschrift weitgehend verdrängt: Statt Briefe schicken Erwachsene E-Mails, SMS ersetzen zu Hause hinterlassene Notizen. Schon in der Grundschule tritt darum der Computer neben das Schreibheft, in Klassenzimmern wie im Lehrplan. Dennoch hat die Handschrift noch klare Vorteile. "In verbundener Schreibschrift können die Schüler flüssiger und schneller schreiben als in Druckschrift oder auf einer Tastatur", sagt Eva Lang vom ISB. Aus dem Computer eine anfassbare Kopie des Geschriebenen zu bekommen, erfordert außerdem zusätzliche Ausrüstung und Spezialwissen, das auch mit Lernspielen vertrauten Kindern oft fehlt. Und verglichen mit der Vielfalt von Tastaturen, mit denen man auf Computern, Handys oder sonstigen Geräten Text produziert, ist die verwirrende Auswahl von Schreibschriften doch äußerst homogen.

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