Schlampereien in der Krebsforschung:Eine Frage der Etiketten

Zellbiologen und Krebsforscher arbeiten offenbar oft mit falschen Zellen, ohne es zu wissen. Vielen Studien-Ergebnissen kann man daher nicht trauen.

Hanno Charisius

Zellbiologen und Krebsforscher haben ein Problem gemeinsam: Sie arbeiten oft mit falschen Zellen, denken aber, es wären die richtigen. Vielen Ergebnissen kann man daher nicht trauen. Es gibt eine einfache Lösung - die Zellen zu prüfen, ähnlich wie bei einem Vaterschaftstest. Das kostet 100 Euro.

"Dumm" findet Hans Drexler, dass Forscher trotzdem immer wieder an falsche Zellen geraten. Drexler darf sich solche Fehler nicht erlauben. Er leitet die Abteilung für menschliche und tierische Zell-Linien der Deutschen Sammlung für Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig. Wissenschaftler können dort Zellen mit Herkunftsgarantie bestellen oder selbst gezüchtete Kulturen einschicken, damit sie in den Katalog aufgenommen werden.

1999 enthielt fast jede fünfte von 252 eingesandten Proben nicht das, was auf ihrem Etikett stand, hat Drexler mit seinem Kollegen Roderick MacLeod bei Überprüfungen festgestellt. Ohne Kontrolle kommt heute keine Zelle mehr in das Referenzlabor.

Maus-Zellen statt Menschen-Zellen

Dass Forscher nicht wissen, womit sie es zu tun haben, hält Krebsforscher Reinhard Kofler aus Innsbruck für "vollkommen absurd". 1980 hat er ein Jahr lang mit Zellen gearbeitet, die er von einem Kollegen bekommen hatte. Menschliche Krebszellen hätten es sein sollen, dann zeigte sich: Sie stammten von der Maus. "Wir hätten viel Zeit und Geld sparen können, wenn wir gleich einen DNS-Test gemacht hätten", sagt Kofler. Heute ist das bei ihm Standard.

Falsche Zellen existieren, seit es Zellkulturen gibt. 1951 gelang es dem amerikanischen Biologen George Gey erstmals, eine sich fortwährend teilende Zellkultur anzulegen. Die Zellen stammten aus dem Krebs am Gebärmuttermund der Patientin Henrietta Lacks, die im selben Jahr ihrer Krankheit erlag.

Ihre Zellen gingen unter dem Namen HeLa in die Geschichte ein und sind nicht mehr aus der Krebsforschung wegzudenken. 1966 prüfte Stanley Gartler von der American Type Culture Collection, dem amerikanischen Pendant zur DSMZ die zwanzig bis dahin gezüchteten Zell-Linien. Statt verschiedener Sorten fand er, dass 18 von ihnen HeLa-Zellen waren.

Schlamperei und Faulheit

Einige Jahre später entdeckte Walter Nelson Rees, damals Zellbiologe an der University of California in Berkeley, 279 falsche Zell-Linien in 45 verschiedenen Labors weltweit. Viele waren mit Zellen von anderen Spezies verunreinigt, doch mehr als 40 Dauerkulturen waren von HeLa-Zellen überwuchert, ohne dass es jemand bemerkt hatte.

Schlamperei und Faulheit seien die Ursache, sagt Drexler. Oft tauschen Forscher untereinander Zellkulturen aus. Dabei müsse nur einer das falsche Fläschchen aus dem Kühlschrank greifen. Durch diese Art der Zellverteilung könne sich ein Fehlgriff auf Labore in der ganzen Welt ausweiten. Noch häufiger würden Proben wohl einfach falsch beschriftet, bevor sie in die Kühlkammer kommen. Auch bei der Zucht der Zellen können Fehler passieren, sagt Drexler. Bei empfindlichen Zellarten würde schon eine einzige Zelle einer anderen, robusteren Art genügen, um die ursprüngliche Kultur zu überwuchern.

So ist die Verbreitung der HeLa-Zellen zu erklären. Oder das Malheur, das kürzlich aufgedeckt wurde: 17 Jahre lang haben Tausende Forscher mit Zellen gearbeitet, die sie für Bestandteile von Blutgefäßen hielten.

Bis sich herausstellte, dass es Blasenkrebszellen waren, erschienen Hunderte Fachartikel über die vermeintlichen Gefäßzellen. Trotzdem sind die Ergebnisse nicht wertlos, sagt Drexler. "Sie sind ja nicht falsch. Sie gelten eben nur für Blasenkrebszellen." Das treffe auch für Studien an jenen Speiseröhrenkrebszellen zu, bei denen sich Anfang September gezeigt hatte, dass sie vertauscht worden waren. Ein britisch-niederländisches Team hatte die im Journal Cancer Research beschrieben (Bd.67, S.7996, 2007).

Unter dem Mikroskop lassen sich Zellen nur von geschulten Experten und auch dann nicht immer zuverlässig zu unterscheiden. Sicherheit gibt nur ein Erbguttest. Laut einer Erhebung aus dem vergangenen Jahr nutzt aber nur etwa die Hälfte der 500 befragten Biologen die Testmöglichkeiten. Die Gefahr, falsche Zellen zu erwischen, sei den meisten Forschern bekannt, sagt Drexler, "doch viele halten es ausschließlich für ein Problem der anderen". Er empfiehlt penible Reinlichkeit beim Anlegen neuer Zellkulturen und regelmäßige Kontrollen.

Um das Problembewusstsein der Forscher zu schärfen, sollten Fachzeitschriften und Institutionen, die Fördermittel vergeben, die Kontrolle der Zellkulturen zu Bedingung erheben. "Es wäre so einfach, den Autoren und Antragstellern dies als Bringschuld aufzuerlegen", sagt Hans Drexler. Bei jenen Zeitschriften, in deren Beirat er sitzt, hat er das bereits durchgesetzt.

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