SZ: Frau Heidbreder, wann haben Sie zuletzt schlecht geschlafen?
Anna Heidbreder: Bestimmt während eines Nachtdienstes in der Klinik. Wahrscheinlich, weil ich gestresst war, weil viel zu tun war.
Oh ja, der Stress.
Wir sagen bei Menschen mit Ein- und Durchschlafstörungen dazu Hyperarousal. Man liegt im Bett und will runterfahren, weiß aber, man muss morgen wieder arbeiten, also müsste man jetzt wirklich dringend einschlafen. Dadurch entsteht ein Negativstrudel. Man hat eh schon ein erhöhtes Stresslevel, das einen schlecht runterkommen lässt, und der steigert sich dann immer weiter.
Was tun Sie, wenn Sie in so einem Strudel stecken?
Ich versuche erstmal, alle Unterhaltungsmedien aus meinem Bett zu entfernen und mir nette Gedanken zu machen, mich runterzuregulieren. Früher hat man Schäfchen zählen gesagt, letztlich mache ich nichts anders: Ich lasse mir etwas Monotones durch den Kopf gehen, das wenig mit meinem Alltag zu tun hat, einen Spaziergang am Strand oder über eine grüne Wiese zum Beispiel. Ich stelle mir dann vor, wie es dort riecht und klingt. Das gelingt mal besser, mal schlechter. Manchmal schläft man besonders schlecht ein, wenn man sich zwingt, an nichts zu denken.
Ein Teufelskreis.
In diesem Fall rate ich meinen Patienten dazu, aufzustehen. Wir nennen das Stimulus-Kontrolle: Man sollte nicht lange wach im Bett liegen, wenn man Gefahr läuft, dass sich das Gedankenkarussell zu drehen beginnt.
Smartphone und Tablet soll man aus dem Bett lassen, liest man oft. Stimmt das?
Es gibt unter Fachleuten immer wieder Diskussionen, ob das Licht mit hohem Blauanteil, das von diesen Geräten abgestrahlt wird, ungünstig für die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin ist. Sicher ist: Wer kurz vor dem Schlafengehen noch in seine Chats oder E-Mails schaut, sieht die Aufträge für den nächsten Tag, Dinge, die nicht erledigt sind. So kommt man womöglich nochmal in Stress.
Also besser ganz klassisch ein Buch lesen?
Alles, was einen herunterfahren lässt und den Tag zum Abschluss bringt, ist erlaubt. Alles, was einen aufregt, ist schlecht. Mit Lesen ist man mitunter auch nicht gut beraten, wenn man etwa nach einem spannenden Krimi schlecht einschlafen kann.
Schlecht einschlafen klingt so banal, das Problem ist aber ja immens: Man schätzt, dass bis zu 45 Prozent der Menschen weltweit an Schlafproblemen leiden.
Das Bewusstsein dafür wird immer größer, jeder hinterfragt sich, viele haben Angst, dass sie nicht leistungsfähig sind, wenn sie zu wenig schlafen. Man muss da aber aufpassen, sich selbst nicht zu pathologisieren, also: Was ist normal, was ist wirklich krank? Die Frage der Forschung ist: Erfüllen diese 45 Prozent wirklich dauerhaft die Kriterien einer chronischen Insomnie? Man vermutet, dass nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung tatsächlich an einer wirklich behandlungsbedürftigen chronischen Schlafstörung leiden, die nichts mit anderen zugrundeliegenden Erkrankungen zu tun haben. Damit relativiert sich die Zahl etwas.
Was genau sind denn in Ihren Begriffen Schlafstörungen?
In der Schlafmedizin sagen wir erstmal zu allem Schlafstörung. Ob wir jetzt Schlafapnoe-Syndrom meinen, Schlaf-Wach-Erkrankungen oder eben die Ein- und Durchschlafstörungen. Letzteres ist ja ein total häufiges Phänomen, jeder von uns erlebt ja wohl mal im Leben eine solche Schlafstörung, bei manchen ist das ein bisschen extremer, oft unter besonderen Bedingungen, etwa wenn eine Prüfung ansteht oder eine Lebensentscheidung zu treffen ist. Das muss auch gar nicht immer negativ sein. Eine Ein- und Durchschlafstörung unterscheidet man laut Definition in eine akute Insomnie, die zum Beispiel bei bestimmten Lebensereignissen wie dem Tod eines Angehörigen auftritt, und in eine chronische Insomnie, wenn die Symptome an mehr als drei Tagen pro Woche über mehr als drei Monate anhalten und man den Aufgaben des Tages nicht mehr nachkommen kann.
Können Einschlafprobleme Zeichen einer seelischen Erkrankung sein?
Es gibt dazu einige Untersuchungen. Studien zeigen etwa, dass Schlafprobleme ein Symptom von Depression sein können. Wir wissen aber auch, dass Menschen mit chronischer Insomnie ein erhöhtes Risiko haben, an Depressionen zu erkranken. Die Frage ist also: Was ist Henne, was ist Ei? Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mit Schlafproblemen verbunden - oder das Risiko, an Diabetes zu erkranken.
Viele Menschen greifen zu Baldrian, Melatonin, Histaminika, auch zu den derzeit beliebten CBD-Ölen. Was ist davon zu halten?
Die Evidenz für alle diese freiverkäuflichen Medikamente ist sehr mangelhaft. Als Schlafmedizinerin muss ich da also kritisch einhaken: Ich kann diese Medikamente nicht empfehlen. Vor allem bei Antihistaminika weiß man, dass sie am Folgetag durch ihre Nachwirkung Wachheit und Konzentration schaden können.
Wenn ich aber überzeugt bin, dass es mir hilft?
Je nachdem, was Sie kaufen, kann man sagen, dass die Mittelchen vielleicht auch nicht schaden. Zum Beispiel Baldrian oder Schlaftees sind doch eher undramatisch, wahrscheinlich wirken sie über den Placebo-Effekt: Sie nehmen etwas und entspannen sich - einfach nur, weil Sie etwas genommen haben.
Welche Mittel aus der Apotheke können Sie denn empfehlen?
Erstmal gar keine Medikamente. Ich würde auf dem Weg in die Apotheke umdrehen und mir stattdessen überlegen, was ich für meine persönliche Schlafhygiene tun kann. Schaffe ich es zum Beispiel am Abend, von meinem Alltag runterzufahren, abzuschalten, keinen Alkohol zu trinken?
Ein Bier macht doch immer so schön müde.
Alkohol kann zwar das subjektive Gefühl vermitteln, schneller einschlafen zu können, die Schlafqualität aber leidet: Menschen schnarchen stärker, auch Atemaussetzer sind nach Alkoholkonsum oftmals ausgeprägter. Das wiederum kann zu einer schlechteren Sauerstoffversorgung im Schlaf führen. Die Schlafqualität leidet aber auch ohne Schnarchen.
Also kein Bier. Was dann?
Es ist grundsätzlich gut, den Tag bewusst abzuschließen mit einer Art Abendritual, also vor dem Zubettgehen die Gedanken des Tages abzuhandeln, gerne auch mit Tagebuch schreiben. Überhaupt sollte man erst ins Bett gehen, wenn man überzeugt ist, einschlafen zu können. Aber Vorsicht: Man sollte das Zubettgehen nicht zu lange herauszögern und auf dem Sofa einnicken. Man muss den Schlafdruck aufrecht halten, bis man im Bett ist.
Das müssen Sie uns erklären: Was ist der Schlafdruck?
Das Konzept des Schlafdrucks geht auf das 2-Phasen-Modell des Pharmakologen Alexander Borberly zurück. Das Modell unterscheidet zwischen zirkadianen Rhythmen, also vereinfacht gesagt einer Art inneren Uhr, die die Müdigkeit reguliert. Außerdem gibt es den über den Tag aufgebauten Schlafdruck, wir werden also über das "Wach-Sein" immer müder. Auf die zirkadianen Rhythmen haben wir keinen Einfluss, aber wenn wir abends auf dem Sofa einnicken, ist es natürlich schwierig, im Bett sofort erneut einschlafen zu können, weil der Druck schon etwas abgebaut ist.
Wir fassen zusammen: Apothekenmittelchen kann man sich sparen, das Nickerchen auf dem Sofa auch. Was können Sie dann empfehlen?
Mittel der ersten Wahl bei einer Insomnie ist die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie. Ich erkläre meinen Patienten gern erstmal, was Schlaf überhaupt ist und wie er funktioniert; auch, dass es normal ist, wenn man in der Nacht mal wach wird.
Bringt diese Theorieeinheit schon was?
Es geht darum, den Druck rauszunehmen. Viele Menschen machen sich verrückt, wenn sie hören, man müsse acht Stunden in der Nacht schlafen. Dabei wissen wir heute, dass die Dauer des Schlafes überschätzt wird. Viele fühlen sich schon nach fünf Stunden fit und kommen gut durch den Tag. Andersherum gibt es auch Menschen, die mehr Schlaf brauchen, was auch im Rahmen des Normalen liegen kann.
Was noch?
Es ist wichtig zu wissen, dass es ganz normal ist, dass sich der Schlaf im Laufe des Lebens ändert. Je älter man ist, um so häufiger wird man nachts wach. Mit dem Alter sinkt der Anteil von Tiefschlafphasen, auch das ist normal. Außerdem sprechen wir über das Erlernen von Entspannungstechniken und Schlafritualen.
Wenn alle Hausmittel nicht helfen: Wann sollte man sich ärztlichen Rat holen?
Kann man plötzlich nicht mehr schlafen oder braucht plötzlich ganz viel Schlaf, dann sollte einen das aufmerksam machen. In seltenen Fällen sind organische Erkrankungen oder ein Schlaf-Apnoe-Syndrom die Ursache. Auch wenn man nach drei bis vier Wochen Therapie merkt, das wird nichts, das wird schlimmer, ich komme einfach nicht zur Ruhe, ergibt es Sinn, mit einer Ärztin oder einem Arzt zu sprechen.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie in der Ambulanz einen Patienten aufnehmen, der über chronische Schlafprobleme klagt?
Auch hier befragen wir die Patienten erstmal ausführlich. Da geht es nicht nur um den Schlaf, sondern auch um weitere Erkrankungen oder Medikamente, die das Problem erklären könnten. Manchmal entscheiden wir, jemanden im Schlaflabor zu untersuchen. Da wird man ausführlich verkabelt und übernachtet hier bei uns. Viele meiner Patienten haben dann große Sorge, dass sie neben den vielen Geräten erst recht kein Auge zubekommen. Gerade Menschen mit schwerer Insomnie fühlen sich aber oft sogar entlastet, weil endlich jemand nach ihnen schaut. Diese Leute schlafen manchmal besonders gut im Labor.
Was genau untersuchen Sie im Schlaflabor?
Wir suchen vor allem nach Störungen, die uns erklären könnten, warum der Schlaf der Patienten gestört ist, also etwa Atmungsstörungen oder schlafbezogene Bewegungsstörungen. Außerdem schauen wir, ob die untersuchte Person wirklich so schlecht schläft, wie sie es selbst wahrnimmt. Es gibt durchaus auch das Phänomen, dass Menschen das Gefühl haben, nicht oder schlecht zu schlafen, obwohl das gar nicht stimmt. Das liegt dann meist eher an den Momenten vor dem Einschlafen: Aus meiner klinischen Erfahrung kann ich sagen, dass ganz viele meiner Patienten ein großes Problem haben, einfach abschalten zu können.
Einfach mal abschalten. Klingt so leicht.
Wir leben, das ist jetzt nicht wissenschaftlich gesprochen, sondern meine persönliche Meinung, in einer Optimierungsgesellschaft. Wir möchten ständig sehr viel in unserem Leben optimieren, auch den Schlaf. Manche messen sogar mit dem Smartphone nach, wie sie geschlafen haben. Sobald man aber beginnt, sich an Skalen zu orientieren, findet man Abweichungen - und macht sich zusätzlichen Stress, der sicher nicht zu besserem Schlaf beiträgt. Also ja, auch wenn es nicht so leicht ist, wie es klingt: Einfach mal abschalten.