Er soll die Armen beschützt und die Reichen bestohlen haben: In den Legenden ist der Schinderhannes so etwas wie ein deutscher Robin Hood – mit dem Unterschied, dass es ihn tatsächlich gegeben hat. Das reale Vorbild für die Sagengestalt war allerdings keineswegs ein Wohltäter. Der Schinderhannes hieß eigentlich Johannes Bückler, wurde um das Jahr 1779 im Taunus geboren und war ein berüchtigter Räuber und Mörder. Im November 1803 wurde er in Mainz mit dem Fallbeil geköpft. Die Gebeine des Schinderhannes befinden sich seit 220 Jahren in der Anatomischen Sammlung der Universität Heidelberg. Doch mit seinem Skelett, das hat nun ein internationales Forscherteam ermittelt, stimmt etwas nicht.
Das Skelett gehörte irgendwem – aber nicht dem Schinderhannes. Das berichten Forscherinnen und Forscher um die Anatomin Sara Doll von der Universität Heidelberg und den Innsbrucker Molekularbiologen Walther Parson nun in der Fachzeitschrift Forensic Science International: Genetics. Das Team hat mehrere Skelette untersucht, sie chemisch und ihr Erbgut analysiert. Ein DNA-Test mit einem lebenden Nachfahren des legendären Räubers brachte letzte Gewissheit: Die vermeintlichen Knochen des Schinderhannes gehörten einst einem anderen.
Immerhin befindet sich auch das wahre Skelett des Schinderhannes in der Sammlung, die Forschenden konnten es nun eindeutig identifizieren. Die echten Gebeine von Johannes Bückler waren zuvor fälschlicherweise dem „Schwarzen Jonas“ zugeschrieben worden, einem Kumpan des Schinderhannes, der mit diesem hingerichtet wurde.

Was ist da geschehen in der Heidelberger Anatomie? Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Doll und Parson schreiben, sie seien mit ihrer Forschung einer mehr als 200 Jahre alten Verwechslung auf der Spur. Die Verwirrung könnte aber auch ihr Gutes haben, meint Sara Doll: Sie könnte dazu beigetragen haben, dass das Skelett des Schinderhannes überhaupt noch erhalten ist.
Wurde hier zusammengesetzt, was gar nicht zusammengehört?
Tatsächlich gibt es in der Geschichte der sterblichen Überreste des Schinderhannes mehrere potenziell kritische Momente mit Verwechslungsgefahr. Das begann bereits bei der Hinrichtung. Der Räuber wurde einst gemeinsam mit 19 weiteren Verurteilten enthauptet. Die Köpfe wurden daraufhin in Säcke gesteckt, die kopflosen Körper dagegen fielen durch eine Klappe und wurden in vorbereitete Särge gelegt. Unmittelbar nach der Hinrichtung unternahmen Wissenschaftler Experimente mit den frischen Leichen. Beteiligt war unter anderem der Mediziner Jacob Fidelis Ackermann, und offenbar behielt dieser den Körper des damals bereits bekannten Räubers für sich. Denn als Ackermann zwei Jahre später den ersten Lehrstuhl für Anatomie in Heidelberg erhielt, brachte er seine Privatsammlung mit, und zu dieser gehörten den Aufzeichnungen zufolge unter anderem die Skelette des Schinderhannes und des „Schwarzen Jonas“.

Ackermann aber starb früh, und weil sein Nachfolger Friedrich Tiedemann wiederum Gebeine aus der eigenen Kollektion mitbrachte, mussten die gesammelten Knochen neu inventarisiert werden. Hierbei könnte es zur Verwechslung gekommen sein, meint das Team in seiner Studie. Jahre später verlieh das Institut dann auch noch ein paar Schädel, darunter den des Schinderhannes, an einen Anatomen in Frankfurt, der die Köpfe von Verbrechern mit denen von Unbescholtenen vergleichen wollte.
Über den weiteren Verbleib dieser Köpfe sei nichts bekannt, tatsächlich sei die ganze Ausleihe nicht dokumentiert, sagt Doll. Deshalb sei auch eine Reihe von Spekulationen darüber entstanden, was nicht alles mit den Köpfen geschehen sein könnte. Befeuert wurden die Gerüchte noch dadurch, dass das vermeintliche Skelett des Schinderhannes in Heidelberg zwar einen Schädel besitzt, dieser aber einen leicht anderen Farbton hat als die übrigen Knochen. Wurde hier etwa zusammengesetzt, was gar nicht zusammengehört?
Unter anderem wegen dieses abweichenden Farbtons gebe es seit Jahren Diskussionen über die Identität des Skeletts, sagt Doll. Sie habe deshalb entschieden, der Frage endlich auf den Grund zu gehen. Mit dem Ergebnis: Die Zuordnung der Köpfe war korrekt. Der unterschiedliche Farbton könne einfach von der Konservierungstechnik herrühren. Sofern sie nach Frankfurt ausgeliehen worden sind, haben die Schädel also offensichtlich irgendwie auch wieder den Weg zurück nach Heidelberg zu ihren Restskeletten gefunden.
Dafür waren die Skelette insgesamt falsch etikettiert.

Nun ist die Identität der Knochen des Schinderhannes den Autorinnen und Autoren zufolge geklärt. Nebenher lässt sich auch Näheres darüber sagen, wie der historische Verbrecher aussah. Die genetischen Daten deuteten darauf hin, dass er „braune Augen, dunkle Haare und einen eher blassen Hautton hatte“, zitiert die Universität Heidelberg Walther Parson, der diese Daten analysiert hat. Verletzungen am linken Unterarm und am rechten Schienbeinknochen passen darüber hinaus gut zu Geschichten über den Schinderhannes. So soll er etwa einmal aus dem Gefängnisturm von Simmern im Hunsrück ausgebrochen sein, indem er zwei Stockwerke tief in die Freiheit sprang, und sich dabei am Bein verletzt haben.
Andere Fragen dagegen stellen sich nun neu. Offen ist zum Beispiel, wem das Skelett gehörte, das man bislang dem Schinderhannes zugeordnet hatte. Sicher ist: Es handelt sich um einen Mann, der mit Ende 20 durch Enthauptung starb. Sara Doll hat den Verdacht, es könnte sich um Veit Krämer handeln, einen Gefolgsmann des Räubers „Hölzerlips“, der 1812 in Heidelberg mit dem Schwert gerichtet worden ist. Um das zu bestätigen oder zu widerlegen, sind weitere Untersuchungen geplant.
Und unklar ist auch, wo die Gebeine des „Schwarzen Jonas“ abgeblieben sind, gehörten dessen vermeintliche Knochen doch in Wahrheit dem Schinderhannes. Offenbar ist das Skelett des Kumpans irgendwann verloren gegangen. „Möglicherweise wurde es im Glauben, es handle sich um das Skelett des Schinderhannes, entwendet oder ausgeborgt und nie zurückgegeben“, sagt Sara Doll. „Ironischerweise könnte diese Verwechslung letztlich dazu geführt haben, dass wir heute noch im Besitz des echten Skeletts von Schinderhannes sind.“