Coronavirus:"Lasst die Schulen offen!"

Schüler mit Masken

Seit Monaten wird darüber gestritten, welche Rolle Schulen im Infektionsgeschehen spielen.

(Foto: dpa)

Eine Analyse von mehr als 110 000 Kindern und Jugendlichen an mehr als 100 Kinderkliniken belegt: Es gibt keine hohe Dunkelziffer von Sars-CoV-2-Infektionen unter Kindern. Kinderärzte fordern deshalb, den Präsenzunterricht beizubehalten.

Von Christina Berndt

Für Kinder und Eltern wird es in der kommenden Woche ernst: Dann wollen die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder erneut darüber beraten, wie es mit dem Schulunterricht in der Pandemie angesichts hoher Sars-CoV-2-Infektionszahlen im Land weitergehen soll. Immer wieder wurde zuletzt die Befürchtung laut, dass es an Schulen womöglich eine hohe Dunkelziffer unerkannter Corona-Fälle gebe. So forderte etwa der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach halbierte Klassen im Präsenzunterricht. Die Vermutung: Unter Kindern gebe es zahlreiche unerkannte Fälle, weil infizierte Kinder häufig keine Symptome entwickeln. Sie werden deshalb womöglich zu selten getestet.

Dieser Vermutung treten jetzt die Direktoren von mehr als 100 deutschen Kinderkliniken entgegen. Unter Federführung von Michael Kabesch, Direktor an der Kinderklinik St. Hedwig der Universität Regensburg, wurden Daten von mehr als 110 000 Kindern und Jugendlichen ausgewertet, die im vergangenen halben Jahr bis zum Stichtag 18. November in 105 der 245 deutschen Kinderkliniken stationär aufgenommen worden waren und sich einem Corona-Test unterzogen hatten. Nur 0,53 Prozent dieser Tests fielen positiv aus. Einen Unterschied in der Positivenrate von Kindern über 12 Jahre und jüngeren fanden die Kliniken nicht.

"Dass es eine hohe Dunkelziffer unter Kindern und Jugendlichen gibt, ist damit sehr unwahrscheinlich", sagt Johannes Hübner, der stellvertretende Direktor des Haunerschen Kinderspitals der Universität München, "unserer Meinung nach sollte man die Schulen offen lassen." Für Peter Walger vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene ist das Ergebnis der Erhebung "ein ganz dicker Stein im Mosaik: Es gibt keine relevante Untertestung bei Kindern, die uns jetzt noch irgendwelche Geheimnisse offenbart".

Der Kinderarzt Hübner räumt ein, dass es sich bei den zusammengetragenen Daten nicht um eine Studie im eigentlichen Sinne handelt. Aber es sei eine umfassende Stichprobe lückenlos ausgewertet worden. "Ich denke, dass unsere Stichprobe den Anteil von infizierten Kindern am Ende sogar überschätzt", sagt Hübner, denn jede fünfte der beteiligten Kliniken hatte nicht alle ihre Patienten getestet, sondern nur jene mit Atemwegssymptomen oder Magen-Darm-Symptomen, die bei Kindern häufig ein Zeichen für eine Corona-Infektion sind. In diesen Kliniken waren bis zu drei Prozent der getesteten Kinder Sars-CoV-2-positiv, während es in den Kliniken, die alle Kinder testeten, nur 0 bis 0,2 Prozent waren. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es derzeit insgesamt 295.500 aktive bestätigte Infektionsfälle, das entspricht einem Anteil von 0,36 Prozent der Bevölkerung - allerdings sind hier gewiss Infizierte unentdeckt.

Vermutlich stecken sich Kinder eher zu Hause an

"Die Erkenntnisse der Kliniken decken sich gut mit dem, was auch schon zuvor aus Italien berichtet wurde", sagt die Virologin Sandra Ciesek von der Universität Frankfurt: "Kinder, die aus anderen Gründen als einem Sars-CoV-2-Verdacht stationär aufgenommen werden, sind nur sehr selten mit dem Virus infiziert. Das passt auch sehr gut zu anderen Untersuchungen, die nicht dafür sprechen, dass Kinder häufig unentdeckt das Virus ausscheiden."

Belege für die oft vermutete besonders hohe Dunkelziffer unter Kindern hat es bisher kaum gegeben. Sie habe bisher "keine Studie gesehen, die nahelegt, dass es bei den Virus ausscheidenden Kindern eine große Dunkelziffer gibt, zumindest nicht in einem größeren Ausmaß als bei allen anderen Altersgruppen", sagt Sandra Ciesek. Wissenschaftler behelfen sich daher mitunter mit Mutmaßungen. So schloss der Berliner Virologe Christian Drosten aus der Tatsache, dass sich derzeit immer mehr 40- bis 50-Jährige mit Sars-CoV-2 anstecken, auf eine hohe Dunkelziffer: In dieser Altersgruppe fänden sich zumeist Eltern jüngerer Kinder, folgerte er, während "weniger Inzidenz in den Altersgruppen, deren Kinder aus dem Haus sind", zu beobachten sei: "Das deutet auf unerkannte Inzidenz bei Kindern hin", schrieb Drosten auf Twitter.

Zwar hatte zuletzt eine Untersuchung von fast 12 000 Blutproben eines Diabetes-Screenings in Bayern sechsmal so viele Corona-Infektionen unter den getesteten Kindern zutage gefördert wie offiziell bekannt. Doch die Blutproben stammten aus der Zeit von April bis Juli - damals wurde noch erheblich weniger getestet als derzeit. Zudem zeigen neuere Untersuchungen, "dass sich bei Kindern, die mit dem Virus Kontakt hatten, eine Immunreaktion nachweisen lässt, ohne dass sie jemals das Virus in relevanter Menge ausgeschieden haben", erklärt Sandra Ciesek. "Sie können somit nachweisbare Antikörper haben, waren aber zu keiner Zeit wirklich infektiös."

Die Erwachsenen haben es in der Hand, die Pandemie zu begrenzen

"Wir waren oft verwundert über gewisse Annahmen, die da öffentlich diskutiert wurden", sagt Matthias Keller, der Ärztliche Direktor der Kinderklinik Dritter Orden in Passau. "Unsere Ergebnisse bestätigen jetzt das, was wir in der Kinderklinik und im Gespräch mit Kollegen wahrgenommen haben - dass es eben nur sehr wenige Kinder mit Sars-CoV-2-Infektionen gibt." Manche Kinderkliniken seien auch der Frage nachgegangen, wo sich das Kind angesteckt hatte. "Oftmals war es das familiäre Umfeld und nicht die Schule", sagt Keller.

"Lasst die Schulen offen!", forderte am Wochenende daher auch die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin als Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften in einer Stellungnahme. Der Lockdown vom Frühjahr habe gezeigt, welch weitreichende negative Folgen die Schulschließungen für Kinder hatten. Zunehmend zeigten Daten, dass die ursprüngliche Befürchtung von Schulen als Infektions-Hotspots sich nicht erfüllt habe. Zwar gebe es Corona-Infektionen an Schulen, es komme dort "aber nur selten zur Ausbreitung auf weitere Personen. Hinweise auf Ausbrüche mit vielen nachgewiesenen sekundären Infektionsfällen (sogenannte Superspreader-Events) gibt es bisher nicht".

Die Anstrengungen, die Pandemie einzudämmen, müssten die Erwachsenen tragen, indem sie ihre Kontakte einschränken, fordern die Kinder- und Jugendärzte. "Die Verantwortung liegt bei Eltern, Betreuern, Lehrern und der gesamten erwachsenen Bevölkerung, ihre ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen vor Ansteckungen zu schützen" - und ihnen so den Schulbesuch zu ermöglichen.

Hinweis der Redaktion:

In einer früheren Version wurde ein Vergleich mit den Daten des Robert-Koch-Instituts vorgenommen, wonach 0,21 Prozent der Kinder aus Schulen und Kindertagesstäten bislang positiv auf das Sars-CoV-2-Virus getestet wurden. Der Vergleich hinkt jedoch, da sich die RKI-Daten auf die Gesamtzahl der positiven Tests im Verlauf der Pandemie beziehen.

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