Süddeutsche Zeitung

Sarrazin und die Genetik:"Bemerkenswert einfältig"

Thilo Sarrazin geht davon aus, seine Vorstellungen von der menschlichen Genetik seien wissenschaftlich begründet. Einer der Forscher, auf die er sich beruft, widerspricht.

Henry Ostrer

Ich bin auf die Debatte in Deutschland über die Schriften und Aussagen Thilo Sarrazins aufmerksam geworden, weil mich Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks gebeten haben, mich zu der Angelegenheit zu äußern.

Offenbar hat Sarrazin meine kürzlich veröffentlichte Studie "Abrahams's Children in the Genome Area" über die Genetik der jüdischen Bevölkerung und der des Nahen Ostens als wissenschaftliche Basis für seine Ausführungen angeführt.

Für mich ist es schwierig, die Gültigkeit seines Standpunktes zu bewerten, da ich weder seine Buch noch seine Bemerkungen im Detail kenne.

Doch die Auszüge in den Medien deuten darauf hin, dass hier viele der verbreiteten Irrtümer über Populationsgenetik wieder aufgewärmt werden. Ich möchte deshalb auf einige Fehler bei der Interpretation unserer Studie hinweisen.

Juden und Muslime sind keine einheitlichen Gruppen. Es gibt mindestens zwanzig verschiedene jüdische Gruppen, die sich nach ihrer langfristigen Ansässigkeit, nach Heiratsmustern und kulturellen Praktiken unterscheiden. Noch zahlreicher sind die muslimischen Gruppen: Sufis im Senegal unterscheiden sich von Schiiten im Irak und von Sunniten in Indonesien.

Genauso unterscheiden sich europäische aschkenasische Juden von den indischen Beni Israel und den nordafrikanischen Juden auf der tunesischen Insel Djerba. Zu behaupten, Juden seien so und Muslime so, ist deshalb eine falsche Darstellung der Erkenntnisse.

Größere genetische Unterschiede innerhalb als zwischen Gruppen

Dazu kommt, dass auch noch die Tatsache missachtet wird, dass die genetische Variation innerhalb einer bestimmten Gruppe meist größer ist als die genetischen Unterschiede zwischen Gruppen.

Indische Sufis, europäische Aschkenasen und deutsche Protestanten zeigen alle in ihrer Gruppe große genetische Varianzen, die sich in der Körpergröße zeigen, in Gewicht, Intelligenz, athletischen Fähigkeiten, Infektionsanfälligkeit oder der Effizienz, mit der sie Medikamente verstoffwechseln. Mitglieder dieser Gruppen sind weder Klone noch Kopien voneinander.

Was die Gruppen voneinander unterscheidet, sind schlicht Häufigkeiten bestimmter Genvarianten. Diese Häufigkeitsunterschiede können wir nutzen, um Gruppen zu klassifizieren. Ein solches Klassifikationssystem deutet darauf hin, dass sich indische Sufis, europäische Aschkenasen und deutsche Lutheraner voneinander unterscheiden.

Dennoch kann keine dieser Varianten als muslimisches, jüdisches oder protestantisches Gen eingestuft werden: In keinem Fall teilen sich alle Gruppenmitglieder die gleiche genetische Variante. Die Genome der einzelnen Gruppenmitglieder kann man sich eher wie ein Gewebe vorstellen, das DNS-Stränge enthält, die einige gemeinsam haben, aber mit Sicherheit nicht alle.

Versuche, eine Gruppe aufgrund der Genetik einiger weniger Mitglieder zu typisieren, führen in die Irre. Die Erforschung der menschlichen Populationsgenetik macht Fortschritte und vielleicht stellt man in Zukunft einmal fest, dass eine Gruppe A eine größere Häufigkeit (vielleicht sechs Prozent) einer genetischen Variante hat, die für Alkoholismus anfällig macht, während eine Gruppe B eine andere Häufigkeit dieser Variante (vielleicht vier Prozent) aufweist. Die Gruppe A nun als Trinker und die Gruppe B als Abstinenzler zu bezeichnen, wäre schlicht und einfach falsch. Doch genau solche Typologien sind das fortbestehende Erbe der Rassenkunde des 19. und 20. Jahrhunderts.

Minoritäten unterscheiden sich demnach von den Mehrheiten in den Ländern, in denen sie leben, aber ihre Genetik ist nur einer von vielen Unterschieden.

Die Unterschiede in Kultur, Anpassung und Erfolg von Gruppen in der Gesellschaft den Genen zuzuschreiben, ist bemerkenswert einfältig und übersieht die unzähligen anderen Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen und den Möglichkeiten, miteinander zu interagieren.

Es ist Zeit, solche Debatten auf eine vernünftige Grundlage zu stellen. Gleichermaßen wichtig ist es, dass sich die Öffentlichkeit in unseren Ländern über die wissenschaftliche Basis der Populationsgenetik informiert, so dass die alten und anhaltenden Irrtümer verschwinden.

Harry Ostrer arbeitet an der New York University School of Medicine. Kürzlich hat sein Forscherteam Ergebnisse von Genanalysen veröffentlicht, die darauf hindeuten, dass jüdische Menschen relativ eng miteinander verwandt sind.

Übersetzung: Markus C. Schulte von Drach

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