Süddeutsche Zeitung

Wahrnehmung:Forscher wollen sechste Geschmacksrichtung entdeckt haben

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Neben süß, sauer, salzig, bitter und "umami" erkennt die Zunge womöglich einen sechsten Geschmack. Lakritz-Fans dürfen sich bestätigt fühlen.

Von Sina Metz

Nördlich des Weißwurstäquators verläuft eine weitere Trennlinie, die Deutschland geschmacklich teilt. Sie soll ungefähr am Main bei Frankfurt entlangführen. Nördlich davon wohnen viele Lakritz-Fans, im Süden schwärmen weniger für die schwarze Süßigkeit.

Nun scheiden sich schon bei einfachem Lakritz, das aus den Wurzeln des Echten Süßholzes gewonnen wird, die Geister. Noch umstrittener ist die Variante mit salzig-scharfer Note, die Ammoniumchlorid enthält - auch bekannt als Salmiak. In Skandinavien und den Niederlanden beliebt, ist Salzlakritz in Deutschland vielen ein Graus. Seit Oktober 2021 muss es dort laut Verordnung ausdrücklich als "Erwachsenenlakritz" gekennzeichnet werden, da Ammoniumchlorid in höheren Dosen die Gesundheit beeinträchtigen kann.

Warum hat die Erwachsenen-Lakritz ihre Fans? Womöglich haben die einen ausgeprägteren sechsten Sinn. Forscherinnen und Forscher der University of Southern California in Los Angeles wollen nämlich eine weitere Sinnesqualität gefunden haben. Neben süß, salzig, sauer, bitter und umami reagiere die menschliche Zunge auch auf Ammoniumchlorid, schreiben sie in einer Studie, die im Fachblatt Nature Communications erschienen ist. Der Geschmack des farblosen Salzes lässt sich am ehesten als bitter-salzig-säuerlich beschreiben.

Dass die Zunge auf Ammoniumchlorid reagiert, ist schon lange bekannt. Doch nicht, welches Empfängermolekül (Rezeptor) dort genau dafür verantwortlich ist. Das Forscherteam konnte jetzt zeigen: Salmiak aktiviert einen Rezeptor auf Sinneszellen, von dem man bereits weiß, dass er auch sauren Geschmack wahrnimmt. Das lässt sich nicht nur an Zellkulturen beobachten: Tatsächlich änderte sich das Verhalten von Mäusen je nachdem, ob sie den Salmiak-Rezeptor besaßen. Wenn er funktionierte, mieden die Mäuse Wasser, dem Ammoniumchlorid zugesetzt war. Funktionierte er nicht, wurden die Tiere nicht vom Geschmack des Salmiak-Wassers abgeschreckt.

Womöglich ist die Fähigkeit, Ammoniumchlorid zu schmecken, ein wertvoller Schutzmechanismus. Der Salmiak-Rezeptor hat sich im Laufe der Evolution erhalten, man findet ihn in Fadenwürmern, Fruchtfliegen, Hühnern, Mäusen - und eben beim Menschen. Stoffwechselprodukte des Ammoniumchlorids könnten in hohen Dosen giftig sein, sagt Emily Liman, Leiterin der Studie: "Es ergibt deshalb Sinn, dass wir Geschmacksmechanismen entwickelt haben, um es zu erkennen." Wie empfindlich Lebewesen für den Salmiakgeschmack sind, hänge stark von der Umwelt ab, in der sie leben. Inwiefern das den deutschen Lakritz-Äquator erklärt, konnte die Studie allerdings nicht beantworten.

Ob Ammoniumchlorid bald neben süß, sauer, salzig, bitter und umami als sechster Geschmackssinn akzeptiert wird, bleibt abzuwarten. Manchmal kann es lange dauern, wie das Beispiel des fleischig-würzigen Umami-Geschmacks zeigt. Der japanische Chemie-Professor Kikunae Ikeda identifizierte diese Sinnesqualität bereits im Jahr 1908 und benannte sie aus den japanischen Wörtern "umai" für "würzig, wohlschmeckend" und "mi" für "Geschmack". Andere Wissenschaftler nahmen das damals nur mit mäßiger Begeisterung auf: Erst 1985, während eines Symposiums auf Hawaii, erhielt umami als fünfte Geschmacksrichtung internationale Anerkennung.

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