"Das sechste Sterben":Abgesang auf die Hawaii-Krähe

Fünfmal in der Erdgeschichte gab es ein katastrophales Artensterben, erklärt die Journalistin Elizabeth Kolbert in ihrem neuen Buch. Jetzt sind wir mitten im sechsten. Ein wenig Hoffnung aber bleibt.

Von Burkhard Müller

"Das sechste Sterben": Elizabeth Kolbert: Das sechste Sterben. Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 312 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Elizabeth Kolbert: Das sechste Sterben. Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 312 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.

Es kann dauern, bis die Wissenschaft ein Problem zur Kenntnis nimmt. Als ihr im 18. Jahrhundert die ersten Knochen von Mammuts und anderen urzeitlichen Großtieren unterkamen, weigerte sie sich lange anzuerkennen, dass es sich hier um ausgestorbene Lebensformen handelte. Dass eine Tierart komplett ausstirbt - das hätte ja Gottes Schöpfungsplan durcheinandergebracht! Erst seit kurzem weiß man, dass es in Australien kuhgroße Beuteltiere gab, deren Untergang überraschenderweise mit dem Auftauchen der ersten Menschen auf dem Kontinent einhergeht - ein Zufall?

Und die Herpetologen, die Spezialisten für Reptilien und Amphibien, konnten es nicht fassen, dass in Mittelamerika, dieser Frosch-Hochburg par excellence, in nur wenigen Jahren faktisch alle Frösche verschwunden waren, selbst der überaus beliebte Panama-Stummelfußfrosch, der als nationales Maskottchen Reklame für Lotterien und Tabakwaren machte. Was war hier geschehen? Und wie geht es weiter?

Der Punkt ist erreicht, wo unsere kurzgetaktete Historie übertritt in die Äonen der Erdgeschichte

"Das sechste Sterben" nennt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert ihr Buch, für das sie im April den Pulitzerpreis bekommen hat; die 6 auf dem Titelbild der deutschen Ausgabe ist aus dem Gehäuse eines Ammoniten geformt, des Vertreters einer überaus erfolgreichen Gruppe schneckenartiger Meerestiere, die vor 250 Millionen Jahren anscheinend von einem Tag auf den anderen aufhörten zu existieren. Das war das dritte Sterben, jenes, das in der Geologie die Grenze vom Erdaltertum zum Erdmittelalter markiert. Einschneidender noch war es als das fünfte und vorletzte, das vor 66 Millionen Jahren die Dinosaurier ausgelöscht hat.

Die Botschaft des Bildes ist überdeutlich: Das zu inzwischen rasender Geschwindigkeit angewachsene gegenwärtige Aussterben von Tier- und Pflanzenarten bedeutet eine Katastrophe, die weit hinausreicht über die schriftlich dokumentierten letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte, hinausreicht auch über die bloß erschlossenen Jahrzehntausende, in denen die Menschheit die eiszeitliche Fauna dezimierte, und es wird seine Folgen noch in Jahrmillionen fühlen lassen. Denn alle Tier- und Pflanzenarten, die sich bis in die fernste Zukunft entwickeln werden, müssen ja ausgehen von dem reduzierten Bestand, der heute übrig bleibt. Der Punkt ist erreicht, wo unsere kurzgetaktete Historie übertritt in die Äonen der Erdgeschichte.

Mit anderen Worten: Das Anthropozän hat begonnen, gleichrangiges Erdzeitalter neben Miozän, Pliozän, Pleistozän, Holozän, wie man die vier vorangegangenen Epochen genannt hat. Noch in hundert Millionen Jahren, davon ist die Autorin überzeugt, wird "selbst ein mäßig kompetenter Stratigraf erkennen können, dass in dem Zeitraum, der für uns Gegenwart ist, etwas Außergewöhnliches passiert ist. Und das wird der Fall sein, obwohl alles, was wir für große Werke des Menschen halten - Skulpturen, Bibliotheken, Bauwerke, Museen, Städte und Fabriken -, zu einer Sedimentschicht verdichtet sein wird, die kaum dicker sein wird als ein Zigarettenpapierchen."

Das große Froschsterben

Ein sehr wehmütiger Gedanke: dass die Krone der Schöpfung sich ausschließlich durch den zerstörerischen Anteil ihrer Aktivitäten in die Annalen der tiefen geologischen Zeit einträgt. Dabei verdankt sich das Wenigste an diesem Prozess eigentlichem Vernichtungswillen. Zwar mögen die nordamerikanische Wandertaube und der tasmanische Beutelwolf mit Absicht exterminiert worden sein. Aber das große weltweite Froschsterben zum Beispiel wurde verursacht durch einen bestimmten Pilz, der unabsichtlich von Europa, wo sich die Frösche schon lang an ihn gewöhnt hatten, zu den gänzlich unvorbereiteten Amphibien Amerikas und Australiens gelangte. Bevor sie sich hätten anpassen können, waren schon alle tot.

Die Ausdifferenzierung der vielen Formen des Lebens hatte sich im Lauf von Millionen Jahren vollzogen, als der Urkontinent Pangaea auseinanderbrach und die nunmehr isolierten Populationen auf den großen Schollen und kleinen Inseln je ihren eigenen Entwicklungsweg gingen. Die heutige Globalisierung mit ihren Verkehrsströmen wirkt, als würde dieser einzige Riesenkontinent jäh neu zusammengefügt. So kam das Kaninchen nach Australien, das Pferd nach Amerika und die Braune Baumnatter auf die Pazifikinsel Guam, wo sie restlos alle einheimischen Singvögel vertilgte. Wie sie dort hinkam? Vermutlich per Schiff in einer Kiste aus Neuguinea, gemerkt hat es keiner.

Natürlich möchte auch niemand, dass die schönen bunten Korallenriffe in den Tropen verschwinden; und doch ist schon die Hälfte von ihnen verloren, bedrängt von den Folgen des menschengemachten Klimawandels, von steigenden Wassertemperaturen und zunehmender Versauerung der Meere, in denen sie keine Kalkskelette mehr bauen können. Und selbst wenn es glücken würde, alle Rodungen im südamerikanischen Regenwald mit sofortiger Wirkung zu stoppen, so wäre es doch schon zu spät für jene Lebewesen, die auf ganz bestimmte klimatische Bedingungen angewiesen sind: Denn weil es immer noch wärmer wird, steigen sie höher und höher die Hänge der Anden hinauf, bis zu den Gipfeln - und dort verschwinden sie, weil es nicht mehr weiter geht.

Leseprobe

Einen Auszug des Buchs stellt der Verlag hier zur Verfügung.

"An Unnatural History" heißt Kolberts Buch im Original-Untertitel, ihre Darstellung wird hin- und hergerissen von zwei widersprüchlichen Impulsen. Auf der einen Seite streicht es den apokalyptischen Ernst der Lage heraus: Was heute vor sich geht, sei vergleichbar nur mit den allerschlimmsten Augenblicken der letzten Milliarde Jahre. Hier übertreibt es womöglich ein wenig; denn so übel es auch stehen mag, ein Extremzustand wie nach dem Einschlag des Asteroiden am Ende der Kreidezeit, als die gesamte Erdoberfläche erst kochte und sich darauf jahrelang in höllische Finsternis hüllte, sodass kein Tier von mehr als Katzengröße am Leben blieb, liegt gegenwärtig eindeutig nicht vor.

Kinohi ist eine der letzten Hawaii-Krähen. Mit Massagen will man ihm sein Sperma abgewinnen

Auf der anderen Seite fühlt sich die Autorin offenbar verpflichtet, ihrem Publikum doch so etwas wie einen Silberstreifen am Horizont zu zeigen. "Das Ding mit den Federn" nennt sie, in zaghafter Verschlüsselung, ihr letztes Kapitel. Die Wendung stammt von Emily Dickinson und meint die Hoffnung. Da hat denn Suci, eins der letzten Sumatra-Nashörner, seinen Auftritt, das in einem amerikanischen Zoo gehegt und gehütet wird, und Kinohi, eine der letzten noch übrigen Hawaii-Krähen. Es ist ein Männchen, und sein Pfleger Durrant versucht, ihm durch Massagen am Unterleib Ejakulat abzugewinnen (was sich bei Vögeln, die keinen Penis haben, schwierig gestaltet). "Falls Kinohi es je so weit bringen sollte, würde Durrant umgehend mit seinem Sperma nach Maui fliegen und eines der Weibchen in der Zuchtstation künstlich besamen."

Seht her, soll das heißen, Menschen machen die Natur nicht immer nur kaputt, es gibt auch welche, die sich mit Hingabe für ihre Erhaltung einsetzen! Dass es in hundert Jahren noch Hawaiikrähen und Sumatranashörner geben wird, darf man trotzdem bezweifeln. Wie es zumeist nicht böser Wille war, der so viele Lebensformen ausgelöscht hat, so (das steht zu befürchten) wird auch der gute Wille nicht ausreichen, den Kurs von Grund auf zu ändern. "Nachdem wir gewarnt wurden, wie wir andere Spezies gefährden, können wir da nicht etwas zu ihrem Schutz unternehmen?" Dieses "Wir", das da in einem einzigen Satz gleich dreimal angerufen wird, existiert nicht; in den seltensten Fällen weiß die Menschheit, was sie anrichtet, und kein einziges Mal in ihrer Geschichte hat sie sich zu einhelligem Handeln aufgerafft. Jeder einzelne Mensch vermag zu erkennen, was geschieht, und sich darüber grämen; aber ihre Gesamtheit verhält sich seit eh und je so blind und kalt wie ein Gletscher.

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