Süddeutsche Zeitung

Wissenschaftsgeschichte:Der Blick ins Innerste

Vor genau 125 Jahren entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm benannten Strahlen. Sie sollten die Medizin für immer verändern.

Von Felix Hütten

Die Geschichte klingt unglaublich, geradezu wie aus dem Plot eines Hollywoodfilms: Sie beginnt mit einem dummen Streich, jemand hatte eine Karikatur des Lehrers an die Tafel gemalt, mehr soll es nicht gewesen sein. Der junge Wilhelm Conrad Röntgen, 16 oder 17 Jahre alt, sollte nun dem Lehrer verraten, welcher Mitschüler zu bestrafen sei.

Röntgen aber schwieg - und flog ohne Abitur von der Schule. Dass ausgerechnet er es sein wird, der 1901, quasi auf dem zweiten Bildungsweg, den ersten Physik-Nobelpreis der Welt kassiert, scheint in diesem Moment unvorstellbar.

Diese Anekdote, tausendmal erzählt, ist vielleicht so etwas wie das Leitmotiv seines Lebens: Der Blick dahinter lohnt sich immer, im Verborgenen, im Versteckten tauchen plötzlich neue Dinge auf. So ist es, wenn man den Körper röntgt, so ist es auch mit der Schulversager-Story. Zwar sei in den Quellen gut dokumentiert, dass Röntgen tatsächlich ohne Abitur von der Schule gegangen ist, sagt Uwe Busch, Röntgen-Biograf und Leiter des Röntgen-Museums in Remscheid.

Aber die Sache mit dem Streich, nun ja, sie hat sich in den Jahrzehnten, in denen sich die Menschen mit seiner faszinierenden Biografie beschäftigen, womöglich etwas verselbständigt. Möglich wäre auch, dass Röntgen von der Schule abgegangen ist, weil er den gut laufenden Tuchhandelbetrieb des Vaters hätte übernehmen sollen - wofür man damals nicht unbedingt ein Abitur brauchte.

Und so lohnt es sich, genau hinzuschauen auf jenen Ausnahmeforscher, der die Medizin mit der Entdeckung der sogenannten X-Strahlen, wie er sie selbst stets nannte, für immer verändert hat. Mit ihrer Hilfe konnten Ärztinnen und Ärzte bereits Millionen Menschen untersuchen; mit ihnen gelang es, Schmerz und Leid zu entdecken und zu behandeln. Seit nun genau 125 Jahren ist es möglich, in das Innere des menschlichen Körpers zu blicken, ohne ihn dafür aufschneiden zu müssen.

Die Revolution der Medizin ist jenem Schulversager zu verdanken, der vor 175 Jahren, am 27. März 1845, in Lennep, dem heutigen Remscheid, zur Welt kommt. Das Röntgenjubiläum 2020 aber, sagt der örtliche Museumsdirektor Uwe Busch, habe man sich dann doch ein bisschen anders vorgestellt. Die Corona-Pandemie hat auch hier zu verschlossenen Türen geführt, so richtig festlich ist das Röntgenjahr jedenfalls nicht gestartet, auch wenn sie nun wieder geöffnet sind.

Es ist eine schöne Analogie zu Röntgens Leben, denn nachdem er die Schule verlassen hatte, schienen ihm die Türen der Universitäten und damit ein Weg in die Wissenschaft zunächst versperrt zu sein. Also doch Tuchhandel? Wilhelm Conrad Röntgen aber war kein Unternehmer, er war Tüftler und Ausprobierer, Denker und Dickkopf, jener Typ Wissenschaftler, der gerne mit den Händen ausprobiert, was er sich zuvor mit dem Kopf überlegt hatte.

Die erste Aufnahme einer menschlichen Struktur gelingt Röntgen kurz vor Weihnachten

Welches Potenzial in ihm steckt, erkennen die Eltern wohl schon früh, mit 16 Jahren immerhin entwickelt er eine Pfeifenrauchmaschine, mit der es möglich ist, besonders schnell Zigarren zu paffen. Die Erfindung war eher kein Meilenstein der Ingenieursgeschichte, zeigte aber doch eindrücklich, wo sein Talent lag. Die Eltern erkannten das Interesse des Sohnes an Technik und Forschung - und förderten es, statt darauf zu beharren, dass er den elterlichen Betrieb übernimmt.

Röntgen wohnte während seiner Schulzeit in Utrecht zur Untermiete bei dem Chemiker Jan Willem Gunning, der ihm erste Einblicke in die Welt der universitären Forschung gewährte. In dieser Zeit veröffentlichte er eine Zusammenfassung von Chemievorlesungen; Röntgen war angefixt von der Wissenschaft. Es folgte ein Maschinenbaustudium am Polytechnikum in Zürich (es war ohne Abitur möglich), sowie ein Aufbaustudium der Physik. 1874 habilitiere sich Röntgen in Straßburg, es folgten Forschungsstationen in Hohenheim bei Stuttgart, Gießen und schließlich Würzburg, wo ihn Prinzregent Luitpold von Bayern im Jahr 1888 zum ordentlichen Professor ernannte.

In dieser Zeit experimentierte Röntgen - wie viele andere Physiker auch schon vor ihm - mit Kathodenstrahlung, allerdings ohne zu ahnen, dass er damit eines Tages weltberühmt werden sollte. Die Entdeckung war nur noch eine Frage der Zeit, sagt Busch. Wie andere Forscher auch beobachtete Röntgen die bis dahin unbekannten Strahlen. Doch im Unterschied zu anderen ignorierte er das Phänomen nicht, sondern verfolgte es akribisch weiter. Wenige Jahre nach seinem Umzug nach Würzburg, im Winter 1895, setzt Röntgen dann tatsächlich jenen Meilenstein der Medizingeschichte, der fortan für immer mit seinem Namen in Verbindung steht, auch wenn er selbst das nie wollte: die Entdeckung der Röntgenstrahlung.

Die erste überlieferte Aufnahme einer menschlichen Struktur fertigt Röntgen kurz vor Weihnachten, es ist das Bild von der Hand seiner Frau Bertha. Dieses Bild ist, wenn man so will, die Geburtsurkunde der Radiologie - und steht damit als Symbol für ein Paradigmenwechsel in der Medizin, wie es ihn bis dahin nur selten gab.

Für die Medizin ging ein Traum in Erfüllung, denn fortan war möglich, was sich Ärzte schon lange gewünscht hatten. Sie konnten in ihren Patienten Fremdkörper genau lokalisieren, etwa Projektile aus Pistolen; Blutgefäße, Lungen, sogar Föten im Mutterleib wurden geröntgt, Gesundheitsgefahren durch die Strahlung waren anfangs unbekannt. Mit der Entdeckung erweiterte sich das Diagnosebesteck der Medizin um weiteres, mächtiges und lebensrettendes Instrument.

Mehr und mehr wurde klar, dass auch nicht Sichtbares gegenwärtig sein kann

Im Januar 1896 präsentierte Röntgen seine Entdeckung anlässlich einer Sitzung der Würzburger Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft; hier entstand das berühmte zweite Foto einer Hand. Sie gehörte dem Anatom Albert Kölliker. Die Aufnahme aber ist nicht, wie manchmal fälschlicherweise geschrieben, das erste Röntgenbild der Welt. Spätestens von diesem Tag an verbreitet sich die Entdeckung wie ein Lauffeuer. "Es gibt nichts, was nicht geröntgt wurde", sagt Uwe Busch, auf Jahrmärkten standen Röntgengeräte, in Schuhgeschäften prüfte man, wie weit die Zehen an der Naht sind.

Und so verfestigte sich unter Medizinern wie Laien mehr und mehr ein Verständnis, dass auch nicht Sichtbares gegenwärtig sein kann. Wissenschaft, das wurde zunehmend klar, bedeutet, Gegebenes zu hinterfragen und stets immer an eine andere Erklärung zu denken als an jene zunächst offensichtliche.

Neben der Faszination aber entwickelte sich auch eine eher düstere Seite. Röntgen, der sich gerne bei Veranstaltungen durch die Hintertür davonschlich, flüchtete von dem Trubel um seine Person regelmäßig in die Schweizer Alpen, um dort beim Wandern den Kopf zu lüften. Auch in der Bevölkerung gab es leise Gegenstimmen. Manche fürchteten etwa, immer sichtbar und durchleuchtbar zu sein, vor den Röntgenblicken nichts mehr verbergen zu können. Und schon Monate nach der ersten Aufnahmen bemerkten Ärzte, dass etwa bei Kopfaufnahmen ihren Patienten die Haare ausfielen, der Begriff des "Röntgenbrands" wurde geboren.

Heute, 125 Jahre später, zählen Röntgenstrahlen zum Standardbesteck der Medizin, wenn auch nach wie vor kritische Stimmen vor einem Übereinsatz warnen. Zum einen, weil heute bekannt ist, welch verheerende Wirkung die Strahlen auf menschliche Zellen haben können, weshalb nur geröntgt werden sollte, was nicht anders zu untersuchen ist. Genau daran entzündet sich der zweite Kritikpunkt, den angeblich auch der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch gegenüber Röntgen geäußert haben soll: Ärzte, damals wie heute, verlassen sich viel zu sehr auf die Aufnahmen, statt ihre Patienten ordentlich zu untersuchen. "Zu viel geröntgt, zu wenig gefragt", heißt es oft in der Medizin. Dass der Satz wohl zutrifft, zeigen die Zahlen: In Deutschland werden jedes Jahr mehr als 130 Millionen Röntgenaufnahmen angefertigt.

Wilhelm Conrad Röntgen wäre wohl schwindelig geworden, hätte er geahnt, welches Ausmaß seine Entdeckung einmal annehmen würde. Denn Röntgen gefiel sich ganz und gar nicht in der Rolle des Wissenschaft-Superstars, sagt Busch. Er mied nach Möglichkeit sogar Konferenzen, denn er wollte nicht, dass ihm Kollegen auf die Schulter klopfen. Er wollte sich um seine kranke Frau kümmern, und, das kann man so sagen, bis zu seinem Tod am 10. Februar 1923 einfach nur seine Ruhe haben.

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Quelle:
SZ vom 06.06.2020
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